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Alt 05-01-2005, 18:42   #24
621Paul
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Mittwoch, 04.01.2005

Es kann einem schon kalt über den Rücken laufen, wenn man beobachtet, was zum Jahresauftakt so alles passiert:

Bei uns in Berlin gibt es die ersten gewaltsamen Proteste gegen Hartz IV – und wer als Betroffener nicht protestiert, der bleibt im Chaos der Anträge und Zuständigkeiten gefangen. Die Börse erzielt zum selben Zeitpunkt ein neues Mehrjahres-Hoch und startet wie eine Rakete in das neue Jahr. Die Zeiten sehen günstiger für Kapitalanleger als für Arbeitslose.

Der Media-Markt gewährt für einen Tag einen Rabatt in Höhe des Mehrwertsteuersatzes. Die Menschen stürmen die Läden, müssen anderthalb Stunden an den Kassen warten. Die Renner sind Fernseher, Boxen und DVD-Player. Die Leute haben einerseits kein Geld, anderseits entfacht ein Rabatt einen plötzlichen Kaufrausch bei Dingen, die eigentlich keiner braucht, weil er sie sowieso schon hat und nur durch bessere oder neuere Dinge ersetzen will. Irgend etwas stimmt hier nicht. Die fundamentale Lage scheint in Ordnung, nur die Erwartungen spielen verrückt.

Ein großes Foto-Unternehmen in Berlin schließt von einem Tag auf den anderen 52 von 82 Filialen und stellt mehr als 180 der 250 Angestellten frei. Und die restlichen arbeiten jetzt zu reduzierten Bezügen. Am 30. Dezember wurde in einem Mitarbeiterbrief noch von „Riesenschritten“ gesprochen, in denen es weitergehen soll, doch am 3. Januar kam für die 180 der Brief, am 4. Januar nicht mehr zu erscheinen. Und parallel zum Aktienmarkt haussiert auch der Rentenmarkt. Die Zeiten stehen günstig für Kapitalanleger und Konsumenten.

Die börsennotierten Unternehmen haben so viel Cash auf ihren Konten, dass sie locker die Dividende erhöhen und/oder Riesen-Investitionen tätigen könnten. Doch ersteres wollen sie nicht – und für letzteres fehlen die Gelegenheiten. Die Profitabilität ist trotz historisch niedriger Zinsen nicht hoch genug.

Der Druck auf die Preise nimmt überall zu – nur die Stadtreinigungsbetriebe erhöhen ihre Gebühren um bis zu 20 Prozent. Andere Staatsbetriebe ziehen nach. Im Gegenzug werden die Steuern reduziert, was allerdings hauptsächlich unverheirateten und kinderlosen Singles zu Gute kommt. In Asien ist das Schicksal der deutschen Touristen viel wichtiger als das der Einheimischen. Plötzlich sprich niemand mehr von Leitkultur, von Weihnachten bei Kerzenschein in heimischen Gefilden als einigendes Moment. Und niemand fragt, warum die meisten toten Touristen ältere Männer mit dicken Bäuchen sind – und was die wohl in Thailand gemacht haben.

Der beliebteste Deutsche ist Günther Jauch. Von über 1.000 befragten Jugendlichen konnte etwa die Hälfte nichts mit den Begriffen „Globalisierung“ und „Soziale Marktwirtschaft“ anfangen oder das Prinzip von Angebot und Nachfrage erklären. Fast jede Frau ist heute zu gestresst für Sex und der Kaffeepreis dürfte dieses Jahr auf ein neues Sechsjahreshoch steigen, sagen Analysten.

Wenn wir nicht von Naturkatastrophen heimgesucht werden, dann dämmern wir in einem Zustand von Stress und Narkose vor uns hin. Und wenn wir von Naturkatastrophen heimgesucht werden, dann auch. Alles ist schlimm – und trotzdem ist alles gut. Was für eine Zeit, in der wir da leben.

berndniquet@t-online.de
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Wenn viele Anleger dasselbe glauben, dann muss dies noch lange nicht bedeuten, dass es stimmt oder wahrscheinlich ist. Das Gegenteil ist oft der Fall.
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