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Alt 16-12-2004, 20:14   #104
Starlight
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Das Zeitalter des Durchwurstelns

Zwischen zwei Stühlen zu sitzen, ist bekanntlich unbequem. So betrachtet geht für die Bullen und Bären an der Wall Street ein gleichermaßen frustrierendes Börsenjahr zu Ende. Weder die Schwarzmaler noch die Sonnenanbeter sollten Recht bekommen. Trotz rückläufiger Sparrate und hoher Benzinpreise liess sich der Konsum kaum bremsen, geschweige denn der Immobilienmarkt. Wie geschmiert lief er, der Wirtschaftsmotor USA.

Im ewigen Wettlauf zwischen Gut und Böse wurde unlängst auch so manch schwer zu nehmende Hürde aus dem Weg geräumt: der klare Wahlsieg der Bush Regierung, der sich aufhellende Arbeitsmarkt oder der rasante Rückgang des Ölpreises. Corporate Amerika darf sich wiederum am schwachen Dollar und den verbesserten Exportaussichten erfreuen.
Bleibt der Sinkflug des Greenback unter Kontrolle, ohne zu merklich höheren Zinsen zu führen, wäre dies ein durchaus begrüßenswerter Trend. So stellt sich zwangsläufig die Frage, warum der S&P 500 Index trotz der auf allen Zylindern feuernden Konjunktur kaum profitieren konnte.

Stets auf der Suche nach Antworten führen die Denker der Wall Street ein ganzes Arsenal an Gründen auf. Ob falsch oder richtig ist zweitrangig. Man denke nur an den Strumpfversuch der Psychologen Nisbett und Wilson. Die Versuchspersonen sollten zahlreiche Strümpfe auf ihre Unterschiede prüfen und dann entscheiden, welche ihnen am besten gefielen -- eine Auswahl, die mit den wundersamsten Erklärungen einhergingen: die Strümpfe fühlten sich gut an, sie seien hauchdünn, urteilten sie. Die Damen wussten nicht, dass alle von der gleichen Machart waren.

Der Wall Street geht es oft ähnlich. In Erklärungsnot geratend wird fieberhaft nach einem Grund für den schwachen Dollar gesucht. In diesem Fall ist das US-Handelsbilanzdefizit der Lückenbüßer. Doch warum schenkte man dem wachsenden Defizit nicht schon zu Beginn des Jahrtausends mehr Beachtung? Womöglich, weil sich der Dollar zwischen 1995 und 2000 trotzdem verteuerte. Das Argument mit dem Defizit zog damals noch nicht. So ändern sich also die Zeiten, und mit ihr die Auffassung von dem was richtig oder falsch ist. Die Interpretation von Fakten passt sich stets den aktuellen Bedürfnissen an.

Die Börsianer müssen sich womöglich auf magere Zeiten vorbereiten. Denn der Trend zur Niedriginflation, der Anfang der 80er Jahre durch Notenbanker Paul Volcker eingeleitet wurde, hat sein Ende gefunden. Nun, wo das Ziel erreicht und die Zinsen auf Tiefstniveau gefallen sind, fehlt dem Aktienmarkt der nötige Rückenwind. Erschwerend kommt hinzu, dass das Ertragswachstum fortan an Schwung verlieren dürfte. Corporate Amerika geniesst die höchste Profitabilität der letzten vierzig Jahre und die niedrigste Steuerlast der Nachkriegszeit. Laut den aktuellen Schätzungen sollen die operativen Gewinne der Firmen im S&P 500 Index in 2005 um 11 Prozent zulegen -- eine Messlatte, die trotz des schwachen Dollars unrealistisch hoch hängt. Um kaum mehr als sieben Prozent dürften die Gewinne expandieren.

Corporate Amerika steckt in der Zwickmühle: Gewinnt der Arbeitsmarkt an Schwung, und die Löhne ziehen an, leiden die Gewinnmargen. Bleiben Neueinstellungen aber aus, droht der Verbaucher auf die Konsumbremse zu treten. Nicht zuletzt wegen des schleppenden Aktienmarktes steigt die Notwendigkeit, die Sparrate von mageren 0,2 Prozent auszuweiten. Über die Hälfte der zwischen 1982 und 2000 gestiegenen Netto-Vermögen gingen schliesslich auf das Konto der boomenden Wall Street.

Kühlt zudem noch der Immobilienmarkt ab, und auch diese Geldquelle versiegt, muss ein größerer Anteil der Einkommen auf die hohe Kante gelegt werden. Solange das Exportwachstum durch den schwachen Dollar angespornt wird, wäre dies für die US-Konjunktur kein Beinbruch. Und doch wird sich die Wirtschaft binnen der nächsten 12 Monate abkühlen, mit einem BIP von vorraussichtlich 3 bis 3,5 Prozent. Leicht über dem Wachstumspotential, mehr aber auch nicht. Man wurstelt sich so durch in den USA. Nicht zu heiss, und nicht zu kalt. Uncle Sam steht weder eine Rezession, noch ein Crash ins Haus.

Gerade wir Europäer tendieren dazu die amerikanische Wirtschaft zu unterschätzen. Sollte die Produktivität an Schwung gewinnen und das Inflationsrisiko sinken, könnte die Profitabilität der Unternehmenswelt auf dem hohem Niveau verharren. Das Handelsbilanzdefizit könnte im Fall einer anhaltenden Dollarschwäche durchaus schneller als erwartet schrumpfen. Langer Rede, kurzer Sinn: So robust die Konjunktur auch ausfallen mag, sind die Chancen der Wall Street doch begrenzt. Im Bestfall bleibt der moderate Aufwärtstrend in Takt.


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