Die verzweifelte Suche nach Inhalten
Montag 08.11.2004
Von Dr. Bernd Niquet
Ich bin kein Christ - und schon gar kein "wiedergeborener
Christ" wie George W. Bush. Ich weiss nicht einmal genau, was
das ist. Meine Beobachtung ist es, dass es das Schwerste fuer
den Menschen ist, den Tod zu akzeptieren und zu begreifen,
dass unser Leben keinen hoeheren Sinn hat, sondern dass wir
uns den Sinn immer nur selbst geben koennen.
Ich denke, dass das einer der entscheidenden Gruende fuer die
Wiederwahl von George W. Bush war. Die Leute wollen ein Ge-
gengewicht zum "sinnlosen" Kapitalismus haben. Die Religion
findet wieder verstaerkt Zulauf - und auch das Bekaempfen von
Terroristen macht ja einen "Sinn". Jedenfalls mehr als ueber
die Staatsverschuldung und das Gesundheitssystem zu streiten
und zu wissen, dass sich letztlich dabei ja sowieso nichts
aendert.
Die Welt ist so gross und so sinnlos, dass es den meisten
Menschen nicht leicht faellt, sich in ihr zu orientieren. Die
Totalitaet unseres Seins kann einen ziemlich leicht erschla-
gen. Es ist daher viel einfacher, die Komplexitaet auf das
simpelste Mass zu reduzieren. An der Boerse beispielsweise
erleben wir das in Reinform. Waehrend in der Wissenschaft nur
derjenige wirklich mitdiskutieren kann, der die ganze Theorie
gelernt und verstanden hat, kann an der Boerse jeder voellig
frei seinen eigenen Sinn (er)finden.
Ich bin dabei immer an Skinners Taubenexperiment erinnert,
bei dem in eine Anzahl von Kaefigen jeweils eine Taube einge-
sperrt ist - und in jeden Kaefig voellig zufaellig Futter
hinein faellt. Die Tauben denken - wie wir Menschen - dass
hier eine Ursache dahinter steht und dass ihr Verhalten zum
Zeitpunkt des Hereinfallens des Futters (beispielsweise den
Fluegel zu schlagen oder auf einem Bein zu huepfen) ursaech-
lich dafuer ist. Und es folglich sinnvoll ist, dieses Verhal-
ten zu wiederholen. Und so sieht man dann lauter verrueckt
herumhuepfende und fluegelschlagende Tauben. Ganz genauso wie
an der Boerse - und auch im normalen Leben sonst.
Das beginnt bereits im Kindergarten. "Wie lange ist denn der
Drache tot, den der Prinz erstochen hat?" fragt mich meine
Tochter immer nach dem Anschauen des Dornroeschen-Films. Ich
versuche ihr stets zu erklaeren, dass der Drachen fuer immer
tot ist, doch dann kommt sie aus dem Kindergarten und sagt:
"Die Vanessa hat gesagt, dass man wieder aufwacht, wenn man
tot ist." Vielleicht sind ihre Eltern ja wiedergeborene
Christen wie George W. Bush. Dann ist die Welt natuerlich
viel einfacher als wenn man sie nimmt, wie sie wirklich ist.
Und wenn ich dann manchmal einige vermeintlich kritische
Boersenzeitschriften und Boersenbriefe anschaue, dann muss
ich immer an den Mann denken, der vor einiger Zeit in grossen
Anzeigen und Vortragskampagnen behauptet hat, dass die ganze
Schulmedizin vollkommener Unsinn ist - und man durch die ein-
fache Einnahme von Vitamin C Herzinfarkte und anderes viel
besser bekaempfen kann. Ein ausgebildeter Mediziner wird hier
nicht einmal hingehoert haben. Und genauso geht es den ausge-
bildeten Oekonomen, wenn sie das ganze Zeug lesen, welches
die vermeintlich so kritische Boersenpresse stets von sich
gibt. Dass George W. Bush die Welt ruinieren wird, dass Alan
Greenspan keine Ahnung hat ... Vielleicht koennen wir die
Weltwirtschaft ja auch mit Vitamin C heilen. Das waere doch
eine schoene und einfache Loesung.
++++++
Bernd Niquet ist Boersenkolumnist und Buchautor.
__________________
Wenn viele Anleger dasselbe glauben, dann muss dies noch lange nicht bedeuten, dass es stimmt oder wahrscheinlich ist. Das Gegenteil ist oft der Fall.
|