Europa im Sommer
Von Dr. Bernd Niquet Von allem befreit ein paar Tage an der Kueste. Fuer Politik muss man sich nicht mehr interessieren. Es weiss zwar noch niemand, ob es Neuwahlen gibt, aber jeder weiss, wie diese ausgehen werden. Doch es ist voellig einerlei. Die Neue Re- gierung macht das Gleiche wie die alte, egal welche es ist. Dieses Einerlei befreit. Auch an die Boerse muss man nicht denken. Sie steigt mit schoener Regelmaessigkeit weiter in die Hoehe. Der Triumph der Finanzen ueber die Politik koennte nicht ueberzeugender ausfallen. Wer jetzt keine Aktien hat, wird lange keine haben. In der Wirtschaft weitet sich die Regentschaft des Hamster- rades aus. Wer nicht Ferien macht, muss strampeln, um sein Leben strampeln. In Holland ist ein ganzes Land "te huur" und "te koop". Verhuren und auf den Kopf hauen? Nein, zu mieten und zu kaufen. Ausdruck wirtschaftlicher Schwaeche oder von Ueberspekulation im Immobilienmarkt? Am Meer ist es erstaunlich leer. Auch ein Anzeichen wirt- schaftlicher Schwaeche - oder sind die Menschen alle in der Karibik? Normale Ferien gibt es nicht mehr. Es muss rund um die Uhr getrunken, gegessen und sich amuesiert werden. Das Hamsterrad muss laufen - volle Geschwindigkeit voraus. Der ganze Strand ist gesaeumt von Restaurant-Buden. Doch das reicht nicht: Bei Ebbe fahren von Treckern gezogene Verkaufs- wagen den Strand entlang, halten, es wird die Glocke geschla- gen: Noch ein wenig Appetit? Geht noch ein wenig Lust hinein? Noch ein Beduerfnis unbefriedigt? Wer kein Eis oder Fischbroetchen in der Hand hat, der haelt ein Segel zum Surfen. Die anderen fliegen oder reiten auf der Banane. Die schoenen Jahre gehen so schnell vorbei. Die Jugend wirkt gelangweilt, luemmelt sich auf Stuehlen und Liegen, ist jedoch ausgesprochen hoeflich. Der Protest als Attituede, im tiefsten Inneren eine formbare Masse. Das Handy als Minifest der persoenlichen Freiheit. Waechst Europa zusammen? Waechst die westliche Welt zusammen? Amerikaner reden doppelt so laut wie Europaeer. Die meisten wirken wie grosse Kinder. Wie lange werden sie noch das Sagen haben? Die Hollaender haben die europaeische Verfassung abge- lehnt. Wer in Amsterdam auf dem Fahrplan nach Zuegen sucht, die die Landesgrenzen ueberschreiten, ist auf einen Extra- Plan verwiesen. "Internationale Zuege" steht da, es ist nicht mehr als eine Hand voll. Erstaunlich fuer ein Land im Zentrum Europas. An der Grenze muss der Zug die Lok wechseln wie auf dem Weg nach Moskau. Die Spurbreite stimmt zwar ueberein, doch die Stromsysteme sind verschieden. Man kann sich ueber alles aufregen und muss dies dennoch ueber nichts. Es ist wie eine riesige Kaeseglocke, die ueber uns allen haengt. Die grossen Konflikte liegen lange hinter uns. Oder ist schlichtweg einfach Sommer? Wohl dem, der we- nigstens im Sommer keine anderen und wirklich brennenden Sor- gen hat. Und selbst wenn es brennt - in 999.999 von einer Millionen Faellen brennt es bei jemand anderem und nicht bei einem selbst. Dann kann man sich schon gruseln vor dem Fern- seher - und denkt: Wie gut es uns doch geht. Doch dann guckt man hinunter: Der Bauch ist zu dick, die Fuesse geschwollen, die Braeune nicht ueberzeugend. Kann man mit dem eigenen Urlaub bestehen? Muss man nicht eigentlich unzufrieden sein? Aber bald ist Herbst, da ist man es so- wieso. ++++++ Bernd Niquet ist Boersenkolumnist und Buchautor. |
Angela Merkels Brezel-Strategie
Von Dr. Bernd Niquet Am Sonntagnachmittag kehre ich mit dem Fahrrad von einer schweren Bergetappe zurueck und fahre die kleine Strasse am See entlang. Auf dem Fussweg kommt mir eine Frau entgegen. Schon von weitem sehe ich, dass sie sehr attraktiv ist. Eine Frau, hier und jetzt, alleine? frage ich mich. Und dann spiele ich intern das Spielchen, das ich sehr oft bei aehn- lichen Gelegenheiten spiele: Was wird sein, wenn man sich be- gegnet? Wird man sich angucken, sich nicht beachten, weg- schauen? Als ich kurz vor ihr bin, spricht sie mich an. Vor Schreck falle ich fast vom Rad. Was Sie mir sagt, bleibt mir fest im Gedaechtnis. Sie sagt: "Brezeln, frische Brezeln." Selbst am Sonntag bei der unverdaechtigsten aller Taetigkei- ten dominiert also bereits das Oekonomische. Diese Frau, denke ich, hat also ein Gewerbe angemeldet, eine Steuernummer beim Finanzamt beantragt, besitzt detaillierte Kenntnisse im Steuerrecht, ist Mitglied der Berufsgenossenschaft, hat die Arbeitsschutzverordnungen gelernt, zahlt Beitraege bei der IHK und hat dann Brezeln eingekauft. Im Grosshandel fuer ei- nen mittleren zweistelligen Cent-Betrag. Und jetzt verkauft sie sie fuer vielleicht zwei Euro. Das ist eine Gewinnspanne, die kein traditionelles Industrieunternehmen erzielt - und von der selbst die New Economy nur traeumen kann. Und ploetzlich begreife ich: Genau das scheint es zu sein, was Angela Merkel mit uns machen will. Wir muessen alles tun, damit neue Jobs entstehen. Das ist Deutschlands Zukunft. Und Deutschlands Zukunft heisst: Wir gehen den Weg der Amerikaner nach - und beschaeftigen uns gegenseitig dadurch, indem wir uns gegenseitig Brezeln, Plunderstuecke und Whopper verkau- fen. Und zwar so lange, bis wir selbst wie Brezeln, Plunder- stuecke und Whopper aussehen. Anschliessend lassen wir uns dann etwas anderes einfallen, verpflichten die Brieftraeger, in jeden Briefschlitz dieses Landes taeglich mindestens zwei Kreditkarten einzuwerfen, verdoppeln die Eigenheimpauschale und beginnen ebenfalls mit dem grossen Immobilienroulette. Selbst die Mehrwertsteuererhoehung bringt dann keinen Schaden mehr, wenn die Brezel immer zwei Euro kostet. Das bringt zwei grundsaetzliche Fragen auf: Was macht eigent- lich ein Land und eine Bevoelkerung reich? Und wie entstehen Arbeitsplaetze? Arbeitsplaetze entstehen, wenn etwas verkauft werden kann, wobei sich ein Ueberschuss der Erloese ueber die Kosten er- gibt - oder zumindest an ein Entstehen eines derartigen Ueberschusses geglaubt wird. Reichtum hingegen entsteht nur dann, wenn mehr produziert als verbraucht wird. Wenn also auf der einen Seite die Unternehmen Teile ihrer Erloese in neue Anlagen stecken und andererseits die Haushalte Teile ihres Einkommens sparen. Wird hingegen mehr verbraucht als produ- ziert und mehr konsumiert als verdient, dann entsteht Verar- mung. Es gibt mithin zwei Moeglichkeiten, Arbeitsplaetze zu schaf- fen: Einmal in Verbindung mit der Schaffung vom Reichtum - und ein anderes Mal mit Verarmung. Der erste Weg ist der asi- atische Weg. Der zweite der amerikanische. Wir Europaeer ste- hen in der Mitte. Was sollen wir tun? Sollen wir Merkels Bre- zel-Weg gehen? Oder sollen wir nicht eher kaempfen und uns gegen die vermeintliche Zwangslaeufigkeit unseres (amerikani- schen) Schicksals stellen? ++++++ Bernd Niquet ist Boersenkolumnist und Buchautor. |
Was eigentlich erforderlich waere
Von Dr. Bernd Niquet Nehmen wir einmal an, wir haben eine Flasche mit Apfel- und eine mit Birnensaft. Der Birnensaft kostet die Produktions- kosten plus den Gewinnaufschlag - und der Apfelsaft zusaetz- lich noch eine Steuer von 30 Prozent, Krankenkassenbeitraege fuer die Apfelpfluecker, Altersabsicherung fuer die Apfel- baeume sowie eine Nicht-Herunterfallpraemie fuer die einzel- nen Aepfel. Es ist nicht schwer zu erraten, wie es auf den Maerkten fuer Apfel- und Birnensaft aussehen wuerde. Es wird bald kaum noch Apfelsaft geben, der Birnensaft hingegen wird unsere Muender nur so fluten. Die gleiche Situation finden wir auf den Maerkten unserer Re- publik wieder. Es gibt zwei wichtige Produktionsfaktoren, die gleichzeitig die Quellen unseres gesamten Einkommens sind - naemlich Arbeit und Kapital. Waehrend die Arbeit mit hohen Steuern und Sozialabgaben belastet ist, ist das Kapital von Sozialabgaben sowieso befreit und steuerlich entweder voellig von jeder Abgabenpflicht freigestellt oder in extremer Weise subventioniert. Kann sich angesichts dieser Situation eigentlich noch jemand wundern, dass das Kapital ueberall im Ueberfluss vorhanden ist und derzeit selbst die letzte Anlage-Nische mit dickem Strom ueberschwemmt, wohingegen die Arbeitsplaetze immer wei- ter verschwinden? Eigentlich kann sich da niemand wundern. Und trotzdem scheinen sich alle zu wundern, was das wirkliche Wunder der aktuellen Gegenwart ausmacht. Ein gerechtes und effizientes Steuersystem verlangt eine Be- steuerung nach dem Reinvermoegenszugangsprinzip. Das heisst: Alle Vermoegenszuwaechse, sei es durch Einkommen oder durch realisierte Gewinne auf Vermoegen, sind zu besteuern - und zwar in gleicher Hoehe. Davon sind wir gegenwaertig aller- dings weiter entfernt als das Raumschiff Discovery von der Erde. Die aktuelle Situation ist vielmehr: Diejenigen, die vom Arbeitseinkommen leben, werden geknebelt und ausgepluen- dert wie die Sklaven. Und diejenigen, die ueber Vermoegens- einkuenfte verfuegen, werden hofiert wie die Feudalherren. Arbeitseinkommen werden belastet mit voller Einkommensteuer, Sozialabgaben, Krankenkassenbeitraegen. Und wer als Arbeit- geber auftritt, zahlt zusaetzlich noch IHK-Beitraege, Gewer- besteuer und diverse sonstige Abgaben. Wer hingegen sein Ver- moegen einsetzt, der bleibt bei realisierten Kursgewinnen nach einen Jahr voellig steuerfrei. Dividenden werden nur mit dem halben Satz besteuert, und kommt die Union an die Regie- rung, wird es bei den Zinsen eine aehnliche maue Regelung ge- ben. Vor allem: Hier ist nichts an die Gemeinschaft zu ent- richten, keine Sozialbeitraege, keine Krankenkassenbeitraege, nix. Das lastet man alles der Arbeit auf. Wir subventionieren also das Kapital und bestrafen die Ar- beit. So koennen keine Arbeitsplaetze entstehen. Was eigent- lich erforderlich waere, ist, die Steuer und die Abgaben auf Arbeit radikal zu senken - und gleichzeitig das Kapital (zu den dann gemaessigten Saetzen) voll zu besteuern und sozial- abgabenpflichtig zu machen. Ich hoere natuerlich sofort den Aufschrei. Das Kapital wuerde fluechten, unsere private Al- tersversorgung behindert ... Doch sind die Punkte stichhal- tig? Tatsache ist, dass eine private Altersvorsorge nur aus versteuertem Einkommen gespeist werden kann. Gibt es keine Jobs und wird das Einkommen weitgehend weggesteuert, dann bleibt ueberhaupt nichts uebrig, um es zurueckzulegen. Alle Kapitalsubventionierung fliesst somit denjenigen zu, die ohnehin schon ueber ein gutes Vermoegen verfuegen. Die gegen- waertige Regelung bevorzugt diejenigen, deren Alter bereits abgesichert ist und behindert diejenigen, die dies erst noch machen muessen. Das kann nicht so weiter gehen. Und die Kapitalflucht? Die Auslaender, die den Kapitalmarkt hierzulande bereits dominieren, treffen diese Regelungen ohnehin nicht. Und die anderen? Die grossen Vermoegenden? Die reden doch dauernd von der Sanierung unseres Landes. Da wer- den sie sich doch nicht verweigern koennen, die Loehne wieder bezahlbar zu machen. ++++++ Bernd Niquet ist Boersenkolumnist und Buchautor. |
Die groesste aller Blasen
Von Dr. Bernd Niquet Wir gehen jetzt also alle zugrunde. Nichts funktioniert mehr in diesem Staate, hoert man von ueberall her. Und dass wir vor der Verarmung stuenden. Ob wohl bald schon der Hunger regier? Ich habe ein interessantes Selbstexperiment vorzuschlagen: Gehen Sie einmal voellig nuechtern und mit dem festen Vorsatz, an diesem Tag weder zu essen noch zu trinken, auf eine oeffent- liche Veranstaltung, vielleicht auf ein Open-Air-Konzert oder ein Volksfest. Was ihnen dort passiert, wird sein: Es draengen sich ihnen ein paar Naturgesetze auf, nach denen unser gesamtes Leben zu funktionieren scheint. Eines dieser Naturgesetze ist: Das menschliche Dasein strebt danach, so viel wie moeglich ins sich oder in andere hineinzustecken beziehungsweise in sich selbst hinein gestopft zu bekommen. Dies ist die Gravitation, die unser Leben bestimmt. Die liberalisierte Marktwirtschaft hat mittlerweile alle Reibungswiderstaende abgebaut, so dass die Gravitation jetzt zur vollen Wirkung kommt. Daraus ergibt sich eine faktische Schichtung des Lebens: So lange es etwas zu essen und zu trinken gibt, tritt alles andere in den Hintergrund. Wo frueher gelauscht und ge- schnuppert wurde, da wird heute brutal gestopft und ge- schuettet. Und das hat ja auch seine Folgerichtigkeit in der heutigen Zeit, schliesslich muss doch immer und ueberall alles in guten Zahlen ausgedrueckt werden koennen. Was anderes ist denn unsere Dienstleistungsgesellschaft? Jeder muss den anderen etwas verkaufen, was diese in sich (und ersatzweise in deren Besitztuemer wie Haus, Auto oder Partner) hinein- stecken koennen. Und was sich zaehlen, messen, wiegen und in Zahlen quantifizieren laesst. Alles andere hat keine Bedeutung mehr. Auf den Punkt gebracht: Wenn jeder Mensch autonom und vernuenftig leben wuerde, dann braeche unsere gesamte Wirtschaft in sich zusammen. Deswegen sollten wir uns auch nur auf das Beobachten konzentrieren und nicht zu viel herummaekeln und kritisieren. Denn das waere wirklich das Schlimmste, wenn alles zusammenbrechen wuerde. Eine Ueberflussgesellschaft kann nur von Unvernunft leben, also froenen wir dem Ueberfluss! Die wirkliche Blase unseres Wirtschaftssystems ist also eine riesige Fettblase. Und wir alle tragen sie mitten im Gesicht, am Bauch und auf den Oberschenkeln. Doch diese Fettblase ist kein Menetekel. Sie weist nicht auf Risiko und Gefahr, wie das bei anderen Blasen - zum Beispiel am Aktienmarkt - der Fall ist. Nein, sie weist vielmehr auf die exzellente Funktion des Systems. Wir alle stopfen wesentlich mehr in uns hinein als wir vertragen koennen. Und das ist auch gut so. Wuerden wir Schluss machen, wo es die ausserwirtschaftliche Vernunft fordert, dann waere das Ende laengst da. Die voellige Freisetzung des Konkurrenzmechanismus durch die Liberalisierung aller Maerkte treibt uns immer weiter an. Wer erfolgreicher sein will als die anderen, der muss weiter, schneller und tiefer stopfen als diese. Die Wirtschaft kann nur wachsen, wenn in uns alle immer mehr hinein geht. So ist das - alles laeuft nach einer erstaunlichen naturgesetzlichen Zwangslaeufigkeit ab. Deswegen hilft auch kein Wahlprogramm keiner Partei, weder eines dafuer noch eines dagegen. Wir haben keine Alternative. Ausser das Platzen. ++++++ Bernd Niquet ist Boersenkolumnist und Buchautor. |
Mentalitaetsunterschiede - oder: Nilpferd auf Nilpferd
Von Dr. Bernd Niquet Es ist nicht leicht, das alles auf die Reihe zu bekommen. Einerseits waechst die Welt immer schneller zusammen, wird alles in quantitativen Groessen vergleichbar gemacht und in Kategorien wie Einkommen, Konsum und Ersparnis auf einen Nenner gezwungen. Andererseits sind die Unterschiede, die sich hinter dieser Fassade verbergen, so gross wie eh und je und damit beinahe unueberwindlich. Eben noch lese ich auf der Internetseite des Manager-Magazins einen sehr instruktiven Bericht "Die USA im Shopping Fieber". Es geht um ein Paar in einem 300-Quadratmeter-Haus, zusammen mit Sohn und Dackel. Sie sitzen auf der Terrasse mit Heiz- strahlern gegen die Abendkuehle und elektrisch verstellbaren Blenden gegen die Mittagssonne. Die Frau nennt Shopping als ihr Hobby. Beide halten Konsum fuer eine patriotische Pflicht und haben sich nach dem Anschlag auf das World Trade Center einen Tennisplatz gebaut und ein neues Auto bestellt, um die amerikanische Wirtschaft zu unterstuetzen. Ich weiss nicht, ob man das glauben kann, doch die Kehrseite dieser Medaille ist auf jeden Fall, dass beinahe jegliches Vermoegen hoch kreditbelastet ist. Es gibt zwar eine positive Nettoposition des Vermoegens gegenueber den Schulden, doch es fragt sich, wie - und zu welchem Preis - diese im Altersfall einmal zu liquidieren ist, um davon den Lebensunterhalt zu bestreiten. Allgemein ausgedrueckt: Ist der Konsum der Gott, dann bleibt nichts (anderes) mehr uebrig. Denn du sollst keine anderen Goetter haben neben mir - so heisst es doch. Etwas angewidert wende ich mich ab. Sind wir vermeintlich so verqueren Deutschen da nicht irgendwie klueger? Und ueber- legen? Geht es uns nicht um ganz andere Werte, ja um Werte ueberhaupt? Auf jeden Fall: Eine Welt, in der sich alles nur um den Konsum dreht, das kann nicht unsere Welt sein. Mit diesen Gedanken im Kopf gehe ich mit meiner Tochter in den Berliner Zoo. Vor dem Nilpferdhaus steht ein grosses aus Bronze gegossenes Nilpferd, das an vielen Stellen bereits blankgescheuert ist von den Schuhen und Hosenboeden der dar- auf wild herumkletternden Kindern. Beachten Sie an dieser Stelle bitte die Metapher: Das Geschehen an den Weltmaerkte und die wild herumturnenden Kinder. Alles ist einerseits voellig chaotisch, andererseits trotzdem geordnet - eine riesige, sich stets wandelnde spontane Ordnung. An diesem Tag ist jedoch alles anders. Eine ziemlich dicke Frau hat drei Kinder auf dem Nilpferd platziert und will sie nun in aller Ruhe fotografieren. Mit bemerkenswerter Gemuets- ruhe gibt sie Regieanweisungen, die Kinder moegen doch bitte versetzt sitzen, damit man jedes von ihnen besser sehen kann. Zudem sollten nicht so dumme Gesichter gemacht werden. Als das alles verwirklicht scheint, greift sie langsam zu ihrem Fotoapparat. Ich stelle mir unweigerlich vor, die Frau waere das weibliche Pendant zu Loriots Dr. Mueller-Luedenscheid und erklaere dem genervten Sozialarbeiter, dass sie mit dem, was er ihr anbietet, nun wirklich nicht ihren Beduerfnissen ent- sprechend leben koenne, weshalb man doch in aller Ruhe einmal konstatieren muesse, dass die Gesellschaft in dieser Hinsicht voellig versagt habe. Mittlerweile haben sich neben dem Nilpferd mehrere Gruppen mit vielen Kindern angesammelt, die ebenfalls das Nilpferd erklimmen wollen. Aus Taktgefuehl werden diese Kinder jedoch zurueck gehalten. Als die Frau nunmehr allerdings ankuendigt, dass jetzt noch Einzelfotos von jedem der drei Kinder ge- schossen werden, platzt einem Vater der Kragen und er gestat- tet seinen Kindern, ebenfalls das Nilpferd zu erklimmen. An- schliessend zueckt auch er seinen Fotoapparat. Die dicke Frau kann in diesem Moment die Welt nicht mehr ver- stehen. So etwas hat sie noch niemals erlebt - nicht einmal von einem aufmuepfigen Mitarbeiter des Sozialamts. Das nor- male Chaos dieser Welt soll ihre Kreise stoeren? Nein, das kann nicht sein, das darf nicht sein. Schnell entscheidet sie sich, was nun zu tun ist. Ihre Maxime lautet: Wenn ich nicht bekommen darf, was ich will, dann sollen die anderen es auch nicht haben. Spricht es und wuchtet den uebergewichtigen Koerper ohne Ruecksicht auf den Verlust von Kinderhaenden, die sich am Nilpferd festhalten, um nicht herunter zu fallen, auf den Koloss hinauf. Nun thront das eine Nilpferd auf dem anderen und verkuendet lauthals: So, jetzt koennt ihr schoene Fotos machen! Wissend, dass jeder Mensch, der seinen Verstand und vor allem seine Aesthetik noch nicht voellig verloren hat, Abstand von seinem Unterfangen nehmen wird. Denn der Preis eines Fotos ist jetzt schlichtweg zu hoch, da dieses Monstrum dann ebenfalls darauf verewigt wird. In diesem Moment erscheint - ploetzlich und wie von Geisterhand gezeichnet - ueber dem Kopf der dicken Frau eine Sprechblase, auf der alle Umherstehenden in Gross- buchstaben lesen koennen: WENN ICH ES NICHT HABEN KANN, DANN SOLLT IHR ES AUCH NICHT HABEN. Entsetzt hebt daraufhin der Vater seine Kinder vom Nilpferd und wendet sich ab. Wir verlassen ebenfalls den Ort des Ge- schehens. Einige Umstehende applaudieren der Frau. Endlich hat es wieder einmal jemand der Welt gezeigt. Ich drehe mich noch einmal um, sehe die beiden Nilpferde aufeinander und muss unwillkuerlich lachen. Dabei ist mir eigentlich gar nicht zum Lachen zu Mute. Die Amis mag ich nicht, aber jetzt habe ich den Eindruck, dem typisch Deutschen mitten ins Ant- litz gesehen zu haben. Es wird langsam Abend, doch es ist noch hochsommerlich warm. Mich hingegen froestelt es. ++++++ Bernd Niquet ist Boersenkolumnist und Buchautor. |
Ein Lob auf die Buerokratie
Von Dr. Bernd Niquet Wenn etwas nicht so funktioniert, wie man es gerne haben will, dann ist es immer angenehm, wenn man einen Schuldigen ausmachen kann, der mit einem selbst nicht identisch ist. Ein beliebtes Opfer aller Scheiternden dieser Welt ist die Poli- tik. Und natuerlich die Buerokratie. Sie eignet sich ganz be- sonders fuer deutsche Weinerlichkeiten jeglicher Art. "Mammi, Mammi", schreit da der Unternehmer, so dass es durch den Wald hindurch im ganzen Land zu hoeren ist, "es schadet mir gar nichts, wenn mir die Haende frieren. Warum kauft mir Pappi auch keine Handschuhe." Weinerlichkeit in Verbindung mit Masochismus - und anschliessend geschuettelt mit etwas Weltverschwoerung und einer Prise vermeintlich gesundem Men- schenverstand. Das ist der Cocktail, der uns Deutschen am besten mundet. Klarer Fall natuerlich, dass wir diesen Cock- tail heimlich zu uns nehmen, also heimliche Trinker sind. Denn so etwas wuerden wir niemals zugeben. Die Welt hat sich durch die Globalisierung in den letzten zehn, fuenfzehn Jahren vollkommen veraendert, doch die Schul- digen sind fuer uns die Gleichen geblieben. Bleiben wir bei der Wirtschaft: Die Politik, einst so maechtig, nationale Waehrungs-, Wachstums- oder Beschaeftigungspolitiken durchzu- fuehren, ist von der Regentschaft der globalen Maerkte voll- ends entmachtet worden. Und trotzdem wird ihr die Schuld hierfuer zugewiesen. (Was natuerlich durchaus folgerichtig ist, da von den frueheren Allmachtstraeumen kein Abstand ge- nommen wurde. Das allerdings relativiert diesen gleich dop- pelten Irrtum keineswegs.) Und die Buerokratie? Sie ist von jeher die Verkoerperung eines verhassten Obrigkeitsdenkens. Doch seitdem es keine Obrigkeiten mehr gibt, seitdem das Normalniveau der Welt- maerkte und Welt-Finanzmaerkte unsere Geschicke lenkt, muesste es da nicht auch ein Umdenken geben? Davon ist aller- dings weit und breit nichts zu sehen. Alle schimpfen genauso wie vorher auf die Buerokratie. Der einzige Unterschied ist, dass sie heute zusaetzlich noch auf die Globalisierung schimpfen. Doch ist das eigentlich konsistent, wenn wir uns bei der Bedienung des Restaurants beschweren, dass die Suppe, die wir gerade essen, eigentlich viel zu salzig ist, an man- chen Stellen hingegen zu wenig gewuerzt? Im Brockhaus ist die Buerokratie als Verwaltungsform defi- niert, "... die durch eine hierarchische Befehlsgliederung (Instanzenweg), durch klar abgegrenzte Aufgabenstellungen, Befehlsgewalten, Zustaendigkeiten und Kompetenzen ... sowie durch genaue und lueckenlose Aktenfuehrung saemtlicher Vor- gaenge gekennzeichnet ist." Ist das nicht wunderbar? Ein Hort der Stabilitaet und Ordnung in einer voellig chaotisch gewor- denen und von der Dynamik des Zauberbesens zerfetzten Welt! Doch es ist ja alles nicht bezahlbar, so hoert man immer wie- der. Die Buerokratie frisst das Geld auf, was wir anderswo so dringend brauchen. Wer so etwas sagt, ist jedoch selbst noch nicht angekommen im Heute, schliesslich wissen wir heute, dass alle Kosten spiegelbildlich auch Einkommen sind. Natuer- lich gibt es ueberall auch Auswuechse. Doch sind die Aus- wuechse der Maerkte nicht viel schlimmer als diejenigen der Buerokratie? Dieses taegliche Trommelgewitter an Werbebot- schaften, zu hohen Lohnkosten, Marktpreisen, staendiger Er- reichbarkeit und voelligem Orientierungsverlust. Welche Hoff- nung dagegen in einer verstaubten Amtsstube! ++++++ Bernd Niquet ist Boersenkolumnist und Buchautor. |
Warum heute alles anders ist
Von Dr. Bernd Niquet Viele Dinge sind isoliert betrachtet nur schwer zu verstehen. Warum sind heute die Zinsen so niedrig? Warum die Arbeits- losigkeit so hoch? Warum gibt es trotz exzessivem Geldmengen- wachstum keine Inflation? Wenn wir die oeffentliche Diskus- sion beobachten, dann merken wir, dass alle diese Fragen jede fuer sich aus einem ganz speziellen Blickwinkel heraus be- trachtet werden. Die Zinsentwicklung sei ein spezielles Markphaenomen, eine Blase, die Arbeitslosigkeit bestehe auf- grund einer Ueberregulierung des Arbeitsmarktes und beim In- flationsthema ist man voellig ratlos. Dies sind einige von vielen der gaengigen Erklaerungsansaetze. Hat man Magen- schmerzen, dann muss also etwas mit dem Magen sein. Zwickt es hingegen im Ruecken, dann muss man dort suchen, roentgen, computertumographieren, kernspinnen, hineinschauen, herumwer- keln. Die grosse Kunst ist es nun, auf den ersten Blick unverbun- dene Dinge auf einen Nenner zu bringen. Also gleichsam ein "verbindendes Gesetz" zu finden. Das ist nur wenigen gelun- gen. Freud war sicherlich einer von ihnen. Er hat gezeigt, dass Magenbeschwerden und Rueckenziehen durchaus ein und die selbe Ursache haben koennen. Keynes war ein anderer. Er hat die verengte klassische Sichtweise, dass nicht geraeumte Maerkte nur auf Marktineffizienzen zurueckzufuehren sind, da- durch aufgebogen, dass er aufzeigt, dass Arbeitslosigkeit eben nicht auf dem Arbeitsmarkt entsteht, sondern das Geld hier den entscheidenden Einfluss ausueben. Mir wird Adaequates nicht gelingen - und dennoch stoesst mir etwas ins Auge, das hierfuer durchaus geeignet waere, jedoch weder in der Theorie noch in der oeffentlichen Diskussion auch nur ansatzweise eroertert wird. Es ist fast so etwas wie ein Gravitationsprinzip oder ein Magnetismus, welcher jedoch historischen Bedingungen unterworfen ist und dementsprechend unterschiedlich wirkt in unterschiedlichen Epochen. Ich unterscheide hierzu die Zwischen- und die unmittelbare Nachkriegszeit auf der einen Seite (hierzu sage ich "frueher" oder "damals") von unserer aktuellen Gegenwart auf der ande- ren Seite. Damals hatten wir eine Nachhol- oder Mangelwirt- schaft, heute hingegen eine Ueberflusswirtschaft. Das ist ei- gentlich eine triviale und allseits bekannte Feststellung. Doch uebertraegt man sie in allgemeine oekonomische Katego- rien, dann ergibt sich durchaus Interessantes und Neues: Frueher, also bis etwa zum Ende der Sechziger Jahre, regier- ten die Guetermaerkte - seitdem jedoch haben die Vermoegens- maerkte die Herrschaft uebernommen. Frueher war das entschei- dende wirtschaftliche Problem die Bereitstellung von Guetern - heute ist es die Anlage und Verwertung von Vermoegen. Frue- her gab es nur geringe Vermoegen, aber einen riesigen Nach- holbedarf an Guetern. Deswegen waren die Ersparnisse eine wichtige oekonomische Groesse. Man brauchte sie dringend, um die notwendigen Investitionen zur Gueterproduktion finanzie- ren zu koennen. Heute hingegen gibt es riesige Vermoegen, aber eine weitgehend gesaettigte Gueternachfrage. Die Erspar- nisse sind daher sekundaer und die Guetermaerkte nur noch ein Vehikel der Vermoegensmaerkte. Noch praeziser auf den Punkt gebracht: Frueher zogen die Gue- termaerkte die Vermoegensmaerkte hinter sich her. Heute hin- gegen schieben die Vermoegensmaerkte die Guetermaerkte vor sich her. Und noch enger gefasst: Damals regierte ein Gueter- vakuum die Welt. Heute hingegen ist es ein Vermoegensberg. Adaptiert man diese Loesung, dann gelingt es ploetzlich wie von Zauberhand, alle am Anfang genannten speziellen Betrach- tungen unter diesem allgemeinen Paradigma zu subsumieren: Das Guetervakuum fuehrte zu tendenzieller Inflation, also hohen Preissteigerungsraten, hohen Investitionen, hohen Zinsen und hoher Beschaeftigung. Dieses Vakuum sog also gleichsam alles in sich hinein. Der Vermoegensberg heutzutage bewirkt hinge- gen das genaue Gegenteil. Er drueckt unter seiner Last alles zusammen, weswegen wir niedrige Zinsen, niedrige Investitio- nen, niedrige Preise und niedrige Beschaeftigung beobachten. Der Sog der Gueter ist durch die Flutwelle der Vermoegen ab- geloest worden. Die wirtschaftliche Welt musste damit eine voellig andere werden. Die entscheidende Frage lautet nun: Was folgt aus dieser Sichtweise fuer die Zukunft? In dieser Hinsicht bitte ich jedoch um eine Woche Bedenkzeit und werde mich erst am naechsten Wochenende an dieser Stelle dazu aeussern koennen. ++++++ Bernd Niquet ist Boersenkolumnist und Buchautor. |
Zitat:
Das konnte ich auch bei dem Kauf eines neuen DVD-Rekorders vor ein paar Monaten beobachten: 1. ohne Garantie als reine Commodity-Ware kostete der Panasonic DMR ES-10 bei ebay ca. 160 EUR, 2. mit Garantie aber ohne Beratung bei amazon.de - 199 Euro 3. mit Garantie und Beratung bei Saturn - 260 Euro. Da merkt man schnell den Wert des Services in der Wertschöpfungskette. :) An sich ist diese Entwicklung nichts Ungewöhnliches, denn auch früher gab es schon immer die Prozesse der ständigen Abwertung der Warenproduktion durch die Massenproduktion, man denke nur daran, was Salz und Pfeffer einmal kosteten! :D Der Vermögensmarkt hat schon die gesamte Wertschöpfungskette begleitet, aber das der Gütermarkt durch den Vermögensmarkt ersetzt worden wäre, das kommt mir wie eine Schnapsidee vor. Der Grund für die ausbleibende Inflation ist übrigens gar nicht so rätselhaft, wie ihn Niquet darstellt, sondern liegt nach allgemeiner Überzeugung an den sinkenden Produktionskosten und hoher Arbeitslosigkeit durch die Auslagerung der Produktion in Niedriglohnländer. |
Die Wirtschaft in der Zitronenpresse
Von Dr. Bernd Niquet In der letzten Woche habe ich eine Theorie erfunden. Unsere Wirtschaft, so behaupte ich, hat sich grundlegend gewandelt: Bis in die Nachkriegszeit war die Versorgung mit Guetern das beherrschende Problem der fuehrenden Wirtschaftsnationen. Der Guetermarkt war folglich das Gravitationszentrum. Seitdem hat sich eine entscheidende Veraenderung ergeben, denn heute ist der Einsatz des Vermoegens zum neuen Regenten geworden. Das erklaert, warum wir keine Inflation mehr beobachten, niedrige Preise, niedrige Zinsen und niedrige Beschaeftigung haben. Marc Faber vertritt eine ganz aehnliche These - und mit ihm alle anderen, die ebenfalls eine pessimistische Grundhaltung haben. Ueberall steht die Dominanz und die Groesse der Fi- nanzmaerkte im Mittelpunkt: "Fuer meinen Geschmack", schreibt Faber, "sind die westlichen Finanzmaerkte zu gross, vergli- chen mit der realen Volkswirtschaft. Und es gibt auch zu viele smarte Leute und Schaetzjaeger in der Finanzindustrie, die es fuer den durchschnittlichen Anleger schwierig machen, eine gute Performance zu erzielen ... Diese Trends fuehren zu einem im Vergleich zur realen Wirtschaft ueberpro- portionalen Wachstum der Finanzmaerkte. Wenn das so weiter- geht - und ich bezweifle, dass das fuer immer so weiter geht - werden die westlichen Industrienationen nur noch sehr wenig (als Anteil am BIP) selbst produzieren, aber eine immer groesser werdende Armee von Finanz-Zauberern wird ihre Tage mit dem Handeln von Finanzinstrumenten wie Aktien, Anleihen, Optionsscheinen und so weiter verbringen!" Klare Sache fuer Faber also. Das kann eigentlich nicht gut gehen fuer die Finanzmaerkte. Es muss eine Anpassung geben. Und das kann eigentlich nur bedeuten, dass es eine Krise an den Finanzmaerkten geben muss, um das Gleichgewicht wieder- herzustellen. Doch die Geschichte lehrt uns, dass man Ent- wicklung niemals antizipieren kann, dass das, was passiert, wenn wirklich Epochales passiert, immer ueberraschend ge- schieht. Gerade neulich ist mir das an einem anderen und sehr gravierenden Beispiel noch einmal vor Augen gefuehrt worden. Denn wie war das, als Hitler bei uns an die Macht kam? Jeder dachte damals: hoechstens durch ein Putsch. Aber ein Umsturz lag nicht in der Luft, waere voellig chancenlos gewesen. Nir- gendwo stand jedoch zur Diskussion, dass das Verderben ver- fassungsmaessig zur Macht kommen koennte. Das war denk- unmoeglich! DENKUNMOeGLICH! Voellig absurd. Doch gerade das geschah schliesslich. Was ist also an obigem Ungleichgewicht fuer die meisten denk- unmoeglich? Kann es nicht vielleicht sein, dass die Anpassung zu einem neuen Gleichgewicht gar nicht ueber die Finanz- maerkte, sondern durch die Wirtschaft ablaufen wird? Meine Theorie suggeriert das - und meine Theorie ist damit um Laen- gen umfassender als Fabers doch sehr einseitige Sichtweise. Denn bei Faber sind die Finanzmaerkte stets nur ein - mehr oder eben heutzutage weniger zutreffendes -Spiegelbild der realen Wirtschaft. Bei meinem Modell hingegen dominieren die Finanzmaerkte die Realwirtschaft. Und ich bin fest davon ueberzeugt, dass diese Vorstellung die Realitaet wesentlich besser erklaert als alles andere. Wenn also die Finanzmaerkte die Realwirtschaft dominieren und determinieren - und die Finanzmaerkte dem Geschehen in der Wirtschaft bereits vorausgelaufen sind -, wie kann die Anpas- sung der Wirtschaft dann vonstatten gehen? Ich sehe zwei Wege: Der optimistische ist eine Ausweitung des Wirtschaftsvolumens ueber die Menge. Das heisst, die Wirt- schaft waechst gleichsam in den Vorlauf der Finanzmaerkte hinein. Der pessimistische hingegen ist derjenige der Anpas- sung ueber die Marge oder die Rendite. Das heisst: Die Wirt- schaft wird von den Finanzmaerkten ausgepresst wie eine Zitrone. Die Wirtschaft schrumpft oder stagniert, die Preise, Zinsen und Beschaeftigung bleiben niedrig und sinken noch weiter. Und genau dadurch werden die Ertraege des produktiven Kapitals weiter gesteigert. Eine Aschenputtelwirtschaft also. Die Guten ins Toepfchen (der Finanzmaerkte), die Schlechten ins Kroepfchen (der Real- wirtschaft). Die Finanzen sonnen sich im Glanz der Sterne und die Menschen strampeln in der Zitronenpresse. ++++++ Bernd Niquet ist Boersenkolumnist und Buchautor. |
The Island of the Disabled
Von Dr. Bernd Niquet Heute ein paar Herbstimpressionen aus England. Weil wir ja vielleicht auch bald eine Kanzlerin haben werden, und natuer- lich, weil ich gerade dort in Britannien ein paar Runden ge- dreht habe. Von Lady Thatcher total umgekrempelt, so so. Man liest es immer wieder und man liest immer wieder zu viel, an- statt den eigenen Augen zu trauen. Doch vorerst konnte ich mit den Augen nichts erreichen, denn das Geschehen spielte sich in meinem Ruecken ab. Ich stand gerade auf der Seepromenade Sheerness auf der Insel Sheppey, wenn man es ueberhaupt noch nennen darf, denn eigentlich ist es nur ein Betonweg neben Betonmauern, um das kostbare Land gegen die Flut zu sichern. Ich betrachte die Einsamkeit, die Rauheit und die Haesslichkeit der Szenerie und bilde mir ein, ploetzlich zu verstehen, warum der Schriftsteller Uwe Johnson sich an diesem Ort umgebracht hat. Ich zuecke den Fotoapparat und werde im selben Moment beinahe von hinten ueberfahren, zudem von lauten Fluechen ueberzogen. Unhoerbar hatte sich ein Rollstuhlfahrer von hinten genaehert - und nun stand ich ihm ploetzlich im Weg. Zuerst etwas aer- gerlich, kam ich wenig spaeter zu der Erkenntnis, gerade ei- nen Blick in die Zukunft geworfen zu haben. Eine durchaus wunderbare Zukunft. Denn es passierte ja noch mehr. Auf dem Weg zurueck zum Auto Rollstuhlfahrer auf dem Buerger- steig in Zweierreihen, in Margate vor dem Hotel-Restaurant saemtliche Parkplaetze reserviert fuer die Disabled. Wer nicht behindert ist, muss also hinter dem Hotel parken. Und in Broadstairs schliesslich ein ganzes Schaufenster dekoriert mit Aufklebern fuer die Disabled. Rollstuhlzeichen der ver- schiedensten Groessen und Farben, Schilder wie "Disabled Driver" und viele sonstige Dinge noch. Die Betreffenden park- ten begeistert davor und schauten. Was ist anders auf der Insel als hier? Bei uns regieren die Hunde die Gruenflachen und die Autos den Rest. Dieser Laerm und diese andauernde Gefahr! Welche Wohltat dagegen das leise Surren eines Rollstuhls! Keine Aggressionen, kein politischer Extremismus. Friede und Verstaendigung. Keine Experimente, schon gar nicht politisch. Unuebersehbare Risiken auch lieber nicht. Ruhe und Ordnung sind die hoechsten Gueter. Wuerden wir doch nur unsere Politiker auch saemtlich in Rollstuehle verfrachten. Und die Triebtaeter gleich mit dazu. Die Flakhelfergeneration stirbt nun aus, der Rest hat ohnehin nichts Wichtiges zu berichten. Und in England ersetzen die Rollstuhlfahrer die Kriegsveteranen. Die Opfer des Wohlstan- des die Opfer des Mangels. Und dann diese unsaegliche demo- graphische Komponente. Die Insel macht uns vor, wo die wirk- lichen Wachstumsmaerkte zu finden sind. Es ist wie in der Mu- sik. Das, was dort heute passiert, schwappt zu uns erst Jahre oder Jahrzehnte spaeter herueber. Ich habe einen Blick in die Zukunft erheischt, doch wo ist sie bei uns? Und was streiten wir ueber nebensaechliche Dinge wie Steuern? Die zentralen Themen sind andere. Das Comeback des Rentners, auf allen Ebenen. Dem Normalen, dem Haftpflich- tigen, das alles sichtbar. Und nicht zu vergessen, dem Wich- tigsten, dem Rentier. Er allerdings unsichtbar, dafuer jedoch der wichtigste Regent unserer Welt. ++++++ Bernd Niquet ist Boersenkolumnist und Buchautor. |
Der Fehler mit der Wettbewerbsfaehigkeit
Von Dr. Bernd Niquet Wir muessen unsere Kosten senken, um international wettbe- werbsfaehig zu sein. Das troetet auch nach dem Wahlkampf noch in unseren Ohren. Die Indoktrination laeuft auf Hochtouren. "Wir muessen immer um so viel besser sein wie wir teurer sind als die anderen", hat Angela Merkel gesagt. Eine derbere Fehleinschaetzung kann man kaum von sich geben. Sie ist zu Recht nicht eindeutig zur Kanzlerin gewaehlt worden. Wie komme ich zu dieser auf den ersten Blick kuehnen Behaup- tung? Warum liegt die herrschende Orthodoxie hier so falsch? Auf dem Weltmarkt konkurrieren wir mit anderen Nationen nur in Hinsicht auf weltmarktfaehige Produkte. Wir sind jedoch eine grosse Volkswirtschaft, in der der ueberwiegende Teil aller Produkte und Dienstleistungen im Inland abgesetzt wird. Und hier gilt das internationale Wettbewerbs- oder Kosten- argument eben nicht, nein, hier gilt fast das Gegenteil da- von. Denn Kostensenkungen von Produkten und Dienstleistungen, die im Inland hergestellt und auch im Inland abgesetzt wer- den, entsprechen gleichzeitig immer Einkommensreduktionen un- serer Buerger. Und das fuehrt auf keinen guten Weg. Das ausschliessliche Wettbewerbsargument fuehrt in letzter Konsequenz, wenn wir die Dinge gedanklich einmal auf die Spitze treiben, dazu, dass unsere Binnenwirtschaft ruiniert wird, damit unsere Gueter schliesslich auf dem Weltmarkt gut abgesetzt werden koennen. Dieser Weg ist jedoch kein erfolg- versprechender Weg! Kann das unser Ziel sein? Wohl eher kaum. Wir muessen vielmehr eine schwierige Gratwanderung beschrei- ten, aussenwirtschaftlich erfolgreich zu sein und uns binnen- wirtschaftlich nicht zu ruinieren. Doch Gratwanderungen ent- ziehen sich schon per Definition einer Patentloesung à la Merkel. Natuerlich "bedroht" uns auch in der Binnenwirtschaft stets das Ausland. Die Waesche der Berliner Hotels wird in Polen gewaschen, und vom Broetchenbacken alleine koennen wir nicht leben. Es ist jedoch stets ein Trade-off - und mit den wirk- lichen Billigproduzenten koennen wir sowieso nicht mithalten. Hohes Augenmerk muss daher stets die Binnenwirtschaft haben. Und dass wir es hier derzeit nicht mit Angebotsproblemen, sondern eher mit einer Schwaechung der Nachfrage zu tun ha- ben, ist wohl offensichtlich. Also: Kein Dogma, sondern eher Pragmatismus! Machen doch die anderen und die weiseren Natio- nen auch! Mindestens ebenso gravierend - jedoch weitgehend in seinen Folgen unbeachtet - scheint mir hingegen der Ausverkauf zu sein, den unser Land gegenwaertig hinsichtlich seiner Assets erlebt. Die besten mittelstaendischen Unternehmen gehen an auslaendische Fonds - und unsere heimischen Kapitalsammel- stellen interessieren sich nicht einmal dafuer. Und die Kommunen verkaufen die Wohnungen schneller als die Baecker die Semmel. Vielleicht leben wir daher bald in einem Land, das in einem ganz anderen Sinne ueberfremdet ist als wir uns das bisher gemeinhin stets so vorgestellt haben. ++++++ Bernd Niquet ist Boersenkolumnist und Buchautor. |
Was hat man uns nur erzaehlt?
Von Dr. Bernd Niquet Die Lohnnebenkosten sind ein Uebel. Ein ganzes Volk wuerde sie am liebsten in den Boden stampfen. Es gibt wohl niemanden mehr, der nicht fuer eine Senkung der Lohnnebenkosten ein- treten wuerde. Die Politik sowieso, die Arbeitgeber natuer- lich auch, denn eine Senkung der Lohnnebenkosten bedeutet fuer sie geringere Lohnzahlungen. Und die Arbeitnehmer sind ebenfalls dafuer, schliesslich bleibt bei einer Senkung der Lohnnebenkosten bei gleichbleibendem Bruttolohn netto mehr in der Kasse. Also weg damit! Zumindest: deutlich herunter! Man ist fast an die Zeiten vor 1989 erinnert. "Die Mauer muss weg!" hiess es damals - und sicherlich mit einigem Recht. Doch lange halten diese Parallelitaeten natuerlich nicht. Wenn ich mir die vielen Mail anschaue, die ich auf meine Kolumnen der letzten Wochen bekommen habe, wird mir die Tragik von Angela Merkel noch deutlicher als vorher. Wie leicht haette sie als leuchtende Wahlsiegerin dastehen koennen, wenn sie einfach nur gesagt haette: Die Lohnneben- kosten muessen herunter. Und nichts von Mehrwertsteuererhoe- hung und sonstigem. Die Mauer muss weg! Damit konnte man schon immer Wahlen gewinnen - und heute sicherlich genauso. Der Rest sind doch oekonomische Zusammenhaenge - und wer ver- steht denn schon davon etwas? Der durchschnittliche Waehler ganz gewiss nicht. Wer also die Chance haben will, ehrliche Politik zu machen, muss vorher betruegen. Wie das geht, hat Schroeder zwei Mal erfolgreich vorexerziert. Doch weg jetzt von der Politik und hin zum Oekonomischen. Die Geschichte mit den Lohnnebenkosten ist ein Nullsummenspiel. Und ein Spiel, bei dem es ausschliesslich um Elastizitaeten geht. Was bringt der Gesamtwirtschaft mehr: zwei Prozent mehr Gewinn oder zwei Prozent mehr Konsum? Die wichtigsten Posi- tionen der Lohnnebenkosten sind die Versicherungsbeitraege der Arbeitnehmer fuer Krankheit und Arbeitslosigkeit, die Leistungen fuer die Rentenzahlungen an die jetzigen Alten und die Lohnzahlungen im Krankheits- und Urlaubsfall. Wenn die Lohnnebenkosten reduziert werden, dann muss irgend jemand das bezahlen. Es gibt mehrere Moeglichkeiten, wobei eigentlich nur eine Gruppe aus dem Schneider ist, naemlich die Unternehmen. Denn eine Finanzierung der Senkung der Lohn- nebenkosten im Unternehmerlager waere zwar theoretisch moeglich, jedoch reichlich widersinnig. Die Senkung der Lohn- nebenkosten ist also so etwas wie ein Lastenausgleich einer ganzen Gesellschaft zu Gunsten der Arbeitgeber. Ein ganzes Land sammelt fuer seine Athleten, damit sie dieses bei den internationalen Wettkaempfen gut vertreten. Und wen kann man hier am trefflichsten zur Kasse bitten? Die Steuerzahler, die Arbeitnehmer und die Konsumenten. Eine Steuererhoehung faellt weg, denn hiermit wuerde man auch die Selbstaendigen und die Personengesellschaften treffen, die doch ebenfalls als Athleten auftreten. Bleiben mithin die Arbeitnehmer und die Konsumenten. Der Mehrwertsteuerfall ist der Merkelfall. Doch die anderen Politiker sind sicherlich kreativ genug, sich noch eine Vielzahl anderer Varianten ein- fallen zu lassen. Angesichts der Kombination von Rekordgewinnen mit totaler Konsumflaute sind das jedoch alles Holzwege. Lassen wir doch die Lohnnebenkosten so wie sie sind! Auch eine Senkung von zwei Prozent macht den legalen deutschen Arbeitnehmer nicht konkurrenzfaehig gegenueber dem auslaendischen Schwarzarbei- ter. Investieren wir lieber mehr in Ueberpruefungen! Denn wir muessen immer bedenken: Zwei Prozent zu Gunsten der Unterneh- men sind zwei Prozent zu Lasten des Konsums. Und das bei der gegenwaertigen Situation. Das duerfte nicht einmal ein weit- sichtiger Unternehmer so recht befuerworten. ++++++ Bernd Niquet ist Boersenkolumnist und Buchautor. |
Ein zwiegespaltenes Land
Von Dr. Bernd Niquet Ueberall Risse, genau mitten durch. Ein ganzes Land gespal- ten. In der Mitte entzwei. Die Risse mehrdimensional. Zwi- schen Norden und Sueden. Zwischen Osten und Westen. Zwischen oben und unten. Und am bedeutsamsten: Zwischen dem, was man sieht - und dem, was man hoert. Zwischen dem, was ist - und demjenigen, wovon behauptet wird, dass es sei und dass man es glauben moege. Alles zerrissene Gestalten. Ueberall nur zerrissene Gestal- ten. In Politik und in der Wirtschaft. Von den Kuenstlern weiss man, dass sie viele Seelen in sich vereinigen. Kauf- leute hingegen sind eindimensional. Bei ihnen laeuft der Riss mitten durch das einzige Ego hindurch. Kaum ein Kaufmann in unserem Land, der keine Zuege von Schizophrenie traegt: Ei- nerseits sind sie die grossen Macher, andererseits jedoch nur arme Wichte, denen von der Politik und von den Gewerkschaften nur Knueppel zwischen die Beine geworfen werden. Immer nur Knueppel zwischen die Beine! Und dann dieses ewige Klagen! Das andauernde Jammern. Hier hat es seinen Ursprung. Man spricht immer von der Wehleidigkeit der Deutschen. Doch es ist nicht das Volk, es ist die Elite, die das Jammern hierzulande erfunden hat. Und mit Erfolg praktiziert. Denn je groesser das Jammern aus dem Unternehmerlager, umso groesser die Zugestaendnisse der Politik. Das hat natuerlich der Buer- ger begriffen und faengt jetzt seinerseits ebenfalls an zu jammern. Die Probleme des Standorts Deutschland, die Verunsicherung der Konsumenten, die Sorgen um den Arbeitsplatz, die die Kon- sumnachfrage so deutlich daempfen - all das kommt vom Gejam- mer der Unternehmen. Hier wird aus egoistischen Motiven ein ganzes Land zugrunde gejammert. Schaut man sich die Gestalten an, die hier an vorderster Front stehen, dann fragt man sich: Wenn denn wirklich alles so toll ist auf Arbeitnehmerseite, der Kuendigungsschutz so unantastbar und die Unternehmen ver- gleichsweise so arm dran sind, ja warum sind diese Leute dann bloss Unternehmer geworden und nicht Arbeitnehmer??? Seit Angela Merkel springt nun auch noch die Politik auf den Jammerzug auf. Mit einem Wahlkampf, ausschliesslich darauf ausgerichtet, ein Land schlecht zu machen. Doch der Buerger hat es bemerkt, was hier geschieht. Und hat die Kanzlerin ab- gewaehlt bevor sie es geworden ist. In der Politik hat der Buerger naemlich genau die Macht, die ihm in der Wirtschaft fehlt. Denn hier hat er gegen das Jammern der Konzerne keine Chance. Die Bundestagswahl hat denn auch gezeigt, was wirklich los ist in unserem Land. Und schauen wir nur auf die anderen Dinge. In Muenchen, das Oktoberfest ueberfuellt. Selbst beim Berliner Oktoberfest schon ueber 100.000 Zuschauer. Im Fuss- ball die meisten Bundesliga-Spiele ausverkauft, im Schnitt ueber 40.000 Zuschauer pro Begegnung. In den Herbstferien alle Strassen leer, die Buerger verreist. Jeder Basar und jedes Volksfest mit Menschen ueberschwemmt. Die Deutschen sind kein Volk von Sauertoepfen und auch keine Konsumverweigerer. Es scheint viel eher so, dass ihnen die Produkte mit dem jaemmerlichen Kundenservice der ganzen Jam- merbande irgendwie an der Huefte vorbei gehen. Das Volk scheint wieder einmal viel vernuenftiger zu sein als seine hochgepuschten Eliten. Wie eigentlich fast immer in unserer Geschichte. Es sollte sich nur nicht immer so infiltrieren lassen mit dem ganzen Unsinn, der aus Machtgruenden publi- ziert wird. ++++++ Bernd Niquet ist Boersenkolumnist und Buchautor. |
Tatsaechlich eine demografische Katastrophe?
Von Dr. Bernd Niquet Es gibt derzeit wohl kein Thema, bei dem eine derartige Kon- formitaet der Meinungen herrscht wie in Hinsicht auf die behauptete demografische Katastrophe, auf die wir zusteuern. Ob die Bayern Meister werden, ob die Zinsen weiter steigen und uns vielleicht ein Aktiencrash bevorsteht. Ueber alles gibt es eine Vielfalt der Meinungen. Nur ueber die Demografie nicht. Wir werden immer aelter und immer weniger. Um Gottes willen, das kann nicht gut gehen. Da sind sich alle einig. Ich glaube, dass es in der gesamten juengeren Geschichte kein Beispiel einer derartigen Verfestigung der Meinungen gegeben hat wie in diesem Thema. Selbst dem Krieg haben noch viele Leute eine positive Seite abgewonnen. Doch bei der Demografie kann es nur eine Katastrophe geben, das scheint bereits heute festzustehen. Wie kommt man eigentlich darauf? Weil man die Wirklichkeit nur mit einem Auge sieht, sich dessen jedoch nicht bewusst ist und folglich das Gesehene fuer das Ganze haelt. Eines ist sicherlich gewiss. Fuer das, was uns in den naechsten Jahr- zehnten bevorsteht, gibt es kein historisches Beispiel. Wir betreten voelliges Neuland. So etwas wie den Baby-Boom der Nachkriegszeit hat es noch niemals gegeben. Ebenso noch nie- mals einen volumenmaessig derart ausgepraegten Rueckgang der Bevoelkerung, wie er sich jetzt abzeichnet. Doch das ist nur die eine Seite der Medaille. Die andere ist: Es hat auch noch niemals in der Geschichte eine derartige Hoehe von angesammeltem Vermoegen gegeben. Und in diese divergierenden Linien hinein gesellen sich zwei weitere ent- scheidende auseinanderstrebende Sichtweisen. Einerseits: Der Bevoelkerungsschwund fuehrt dazu, dass demnaechst die Versor- gung der vielen Alten durch die wenigen Jungen nach den jet- zigen Regeln nicht mehr gewaehrleistet ist. In diesem Sinne ist die Bevoelkerungsentwicklung also tatsaechlich eine Kata- strophe. Andererseits gibt es jedoch einen heftigen Produktivitaets- fortschritt und wir befinden uns mitten im Eintritt in das postindustrielle Zeitalter. Beides bedeutet, dass uns sukzes- sive die Arbeit ausgeht. Erste Vorlaeufer sind bereits zu merken. Vieles, was bisher der Mensch gemacht hat, laeuft bereits ueber Computer und Maschinen. Und dieser Trend wird sich weiter beschleunigen. Bald werden wir nur noch Bruch- teile der Arbeit - und damit auch der Beschaeftigten - benoe- tigen, um sogar einen hoeheren Lebensstandard zu erreichen als bisher. In diesem Sinne ist unsere Bevoelkerungsentwick- lung also ein regelrechter Segen! Denn wohin ansonsten mit den ganzen Menschen, wenn man keine Arbeit hat fuer sie? Es sieht also alles danach aus, als ob es in jedem Fall einen Ueberhang geben wird. Laender mitwachsender Bevoelkerung wer- den die Jungen ausserhalb des Erwerbslebens alimentieren muessen. Und schrumpfende Bevoelkerungen dasselbe mit den Alten. Betrachtet man die Dinge einmal von dieser Warte aus, haben wir es vielleicht gar nicht mit einer Katastrophe, son- dern vielmehr mit einem Glueckslos zu tun. Denn sind Massen an Jugendlichen ohne Arbeit durchzufuettern, dann birgt das enorme soziale Spannungen. Schaut man hier auf die moslemi- schen Staaten, kann einem nur das Grauen kommen. Zudem die Jungen auch noch alle voellig vermoegenslos sind. Dann lieber Alte, Ruhige und Konservative durchfuettern, die ueberdies wenigstens zum Teil schon selbst vorgesorgt haben fuer ihr Alter. Und ihre Vermoegen nicht vererben muessen, sondern frei verkonsumieren koennen. ++++++ Bernd Niquet ist Boersenkolumnist und Buchautor. |
Die Frau mit der Eisenmaske
Von Dr. Bernd Niquet Altweibersommer an der Ost-Ostsee. Seit Tagen nicht eine ein- zige Wolke am Himmel. Seit Wochen kein Regen. Ein Wetter wie es das nur ganz selten gibt. Doch wenn erst einmal wieder ein paar Regentage da sind, werden die Menschen sich wieder ueber das Wetter beschweren. Dann wird sich niemand mehr erinnern, niemand mehr abwaegen, dann kommen die Urteile direkt aus den aktuellen Wahrnehmungen der Sinne. Das Hallenbad des Hotels ist aufgrund des guten Wetters ver- gleichsweise leer. Das kleine Maedchen paddelt mit hochgebun- denen Haaren und Schwimmfluegeln sowie Schwimmreifen durch das Becken. Wen dieses Bild nicht ergreift, den ergreift nie- mals mehr etwas. Die Frau mit der Brille durchschwimmt den Pool nach einem vorgegebenen Rhythmus. Am vorderen Rand der Laenge nach brustschwimmend, dann in der Mitte rueckenschwim- mend zurueck. Ganz dicht kommt sie an dem kleinen Maedchen vorbei, da sie sich nicht umdreht und hinten keine Augen hat. Die Gesichter der beiden begegnen sich. Das kleine Maedchen lacht vergnuegt. Ihre Milchzaehne strahlen. Die Mimik der Frau bleibt voellig unveraendert. Stumm und regungslos zieht sie ihre Bahnen, eine nach der anderen. Keine Abweichung. Das Gesicht voellig unveraendert. Abends ist sie im Restaurant wieder zu sehen. Das Buffet beginnt um sechs. Um fuenf Minu- ten vor sechs hat sie sich mit ihrem Mann an einem Platz am Fenster hingesetzt. Reservierungen im Voraus sind nicht moeglich. Ihr Gesicht ist immer noch voellig unveraendert. Ihr Mann hat ein frisch gebuegeltes gestreiftes Oberhemd an, das niemals einen Koffer von innen gesehen haben kann. Sein Scheitel ist praezise gezogen, der Faconschnitt der Haare perfekt. Die beiden essen schweigend. Gemeinsam trinken sie eine Flasche Mineralwasser. Das Gesicht der Frau ist voellig unveraendert. Das des Mannes ebenfalls. Die beiden blicken jeder fuer sich im Restaurant herum. Die spaeter Gekommenen sitzen nicht am Fenster. Manche lachen, manchen schmeckt das Essen sichtlich. Einige trinken Bier, wenige Wein. Ein Glueck, dass wir nicht so sind wie die, denkt die Frau. Doch ihr Gesicht bleibt voellig unbeweglich. Jeder Tisch wie eine Monade. Der Individualismus feiert jetzt auch hier seine Triumphe. Doch sein Schicksal ist das Gleiche wie ueberall. Je mehr die Menschen sich von den anderen ab- setzen moechten, umso groesser wird die Konformitaet. Jedem Individualisten und Egoisten sitzen die anderen, von denen er sich absetzen moechte, ganz tief im eigenen Fleisch. Und je mehr er strampelt, um so staerker schmerzt es. Das Gesicht bleibt jedoch voellig unveraendert. Der Abend geht zu Ende wie alle anderen Abende auch. Das Buffet ist gut abgeraeumt, niemand ist betrunken, niemand ist laut geworden, niemand ist aus der Reihe gefallen. Alle Gespraeche bei Tischlautstaerke. Bei Neckermann kostet es ein paar Euro weniger als bei TUI. Da hat man das Geld fuer Kaffee und Kuchen wieder heraus. Doch das Gesicht bleibt unbeweglich. Soll man sich Sorgen um so ein Land machen? Sicher, es wird keine grossen Experimente mehr geben und die Herausforderun- gen der Zukunft wird man nur mittelmaessig bestehen. Doch fast alle Katastrophen der Geschichte sind aus Experimenten und Aktionismus entstanden. Der Ueberflieger kann durchaus abstuerzen. Doch der Sitzenbleiber findet in der naechst niedrigeren Stufe seinen Platz. Soll man sich also Sorgen machen? Nein, denn es geht alles seinen geordneten Gang. Und den wird es auch weiter so gehen. Es gibt nur eine Tragik, doch sie ist keine oekonomische Ka- tegorie: Das Gesicht bleibt dabei voellig unbeweglich. ++++++ Bernd Niquet ist Boersenkolumnist und Buchautor. |
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