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621Paul 29-01-2006 09:27

Wenn alle die Dinge gleich sehen

von Dr. Bernd Niquet

Gerade komme ich zurueck von der Internationalen Kapital-
anleger-Tagung des ZfU in Zuerich - und mir schwirrt noch der
Kopf. Zwei Tage ein konzentriertes Programm. Und immer wieder
die selben Dinge. Nur jedes Mal aus einer anderen Sichtweise.

Auch in diesem Jahr sind mir einige ganz besondere Dinge auf-
gefallen. Erstens: Fast alle Referenten, von den notorischen
Optimisten wie Kenneth Rogoff bis hin zu den ewigen Skepti-
kern wie Marc Faber, teilen im Grunde genommen ein identi-
sches Weltbild. Unterschiedlicher Meinung ist man nur in der
Gewichtung der einzelnen Faktoren. Zweitens: Niemand hat auch
nur einmal das Wort "Crash" in dem Mund genommen. Drittens:
Alle vertreten eine falsche Geldtheorie. Und viertens: Der
Trend weiter steigender Rohstoff- und Edelmetallpreise ist so
deutlich, dass er an Deutlichkeit nicht mehr zu uebertreffen
ist. Wenn an den Boersen jemals "geklingelt" worden ist, dann
klingelt es jetzt. Dass die Rohstoff- und Edelmetallpreise
(bei aller Volatilitaet) im Trend weiter steigen werden, ja
steigen muessen, ist so eindeutig, dass fast kein Zweifel
moeglich ist. Bleibt alleine die Frage, ob so etwas eigent-
lich moeglich ist.

China wird weiter wachsen, Indien wird weiter wachsen, alle
Emerging Maerkte werden weiter wachsen. Das wird aufgrund der
riesigen Anzahl der Menschen, um die es hierbei geht, die
Rohstoffpreise ansteigen lassen. Betrachtet man die Welt als
Ganzes, dann geht die Industrialisierung eigentlich erst
jetzt richtig los. Was bisher in den bisherigen Industrie-
staaten passiert ist, ist nur ein regionales und zumindest
selektives Phaenomen. An einem weiteren und langfristigen
Anstieg der Rohstoffpreise fuehrt damit kein Weg vorbei.
Keiner!

Die Loehne in China und Indien betragen nur etwa zwei (!) bis
drei (!) Prozent des Lohnniveaus der Industrielaender. Es
gibt daher keinen Mechanismus, die Verlagerung der Produktion
zu stoppen. Selbst wenn China seine Waehrung um 100 Prozent
aufwerten wuerde, waere das nicht mehr als ein Tropfen auf
den heissen Stein. Von Lohnzurueckhaltung unsererseits ganz
zu schweigen. Spiegelbildlich zu der hohen Produktion und dem
vergleichsweise geringen Konsum in den aufstrebenden Laendern
steht der hohe Konsum und die geringe Produktion in den USA.
Daraus ergeben sich Ungleichgewichte, die nach Anpassung ver-
langen.

Der Konsens der Meinungen sieht diese Anpassung als langsamen
Prozess, von riesigen Verwerfungen bis hin zu einem Crash
spricht hingegen niemand mehr. Wirklich niemand. Das macht
mich natuerlich etwas besorgt. Denn wenn niemand vom Crash
spricht, dann ist es durchaus eine gefaehrliche Situation,
die durch den ueberbordenden Optimismus an allen Assetmaerk-
ten ebenfalls widergespiegelt wird. Die pessimistischste
Meinungen, die ich gehoert habe, kam von Ralph Acampora und
lautete, dass die Aktien im Jahr 2006 um etwa 20 Prozent kor-
rigieren koennten, dann aber wieder eine treffende Chance
fuer die naechsten Jahre boeten. Doch so etwas ist wohl kaum
pessimistisch zu nennen.

Hintergrund dieser Denkweise ist bei allen Marktteilnehmern
die These von der "vagabundierenden Ueberschussliquiditaet",
die ueberall hinstroeme, die Kurse treibe und von niemandem
mehr recht eingefangen werden koenne. Wer meine Kolumnen re-
gelmaessig liest, weiss, dass das Unsinn ist. Es gibt keine
Ueberschussliquiditaet. Es gibt nur einen Ueberoptimismus.
Hier koennte also eine zweite Achillesferse der Marktein-
schaetzung zu finden sein.

Was also tun? Ich plaediere dafuer, in die steigenden Aktien-
kurse die Aktienbestaende etwas abzubauen und vom Gegenwert
den einen Teil sofort in Rohstoffen (nicht aber Rohstoff-
aktien) anzulegen und den zweiten Teil zu parken, um auf eine
Korrektur der Commodities zu warten, um dann noch staerker
dort zu investieren.

Auf Sicht von fuenf bis zehn Jahren muesste sich das gut
rechnen. Man darf zwischendrin aber nicht zittrig werden und
sich durch heftige Preisschwankungen abschuetteln lassen. Es
scheint mir an dieser Stelle durchaus angebracht, wieder das
alte Kostolany-Beispiel auszugraben und es auf die heutige
Zeit umzuwandeln: Rohstoffe kaufen (Endloszertifikate), in
die Apotheke gehen, Schlafmittel nehmen, nach fuenf bis zehn
Jahren schliesslich aufwachen und sich freuen.



++++++

Bernd Niquet ist Boersenkolumnist und Buchautor.

621Paul 31-01-2006 22:23

Es gibt keinen Realismus an den Börsen
12:09 30.01.06







Sind es Realisten oder Optimisten, die jetzt die Aktien kaufen? Und beim Gold? Sind es Goldoptimisten, die kaufen? Oder Systempessimisten? Es ist gar kein Pessimismus, der die Leute jetzt ins Gold treibt, schreiben mir viele Leser. Wer jetzt Gold kauft, ist vielmehr ein Realist. Ich komme dann stets mit der Gegenthese: Es gibt an den Märkten sowieso keinen Realismus. Es ist völlig unmöglich, an den Märkten Realist zu sein. Man kann immer nur Optimist oder Pessimist sein. Aber niemals Realist.



Jeder Realismus kann sich stets nur auf die Gegenwart beziehen. Ein Realist kann man nur dann sein, wenn man glaubt, dass eine Aussage korrekt wiedergibt, was gegenwärtig der Fall ist. Da es an den Märkten jedoch ausschließlich um die Diskontierung der Zukunft geht, versagt das Realitätskriterium hier schon definitionsgemäß.



Außerdem könnten Märkte niemals funktionieren, wenn es hier einen Realismus gäbe. Denn Marktpreise kommen stets nur dann zustande, wenn es zwei Marktseiten gibt. Doch wenn es prinzipiell möglich wäre, zu wissen, was gegenwärtig und zukünftig der Fall ist, wer sollte dann noch die Gegenposition dazu bekleiden. Dann müsste man behaupten, dass bei jedem Handel stets ein Kluger und ein Dummer aufeinandertreffen.



Ich halte das für problematisch und sehe daher den Realismus an den Märkten als eine Unmöglichkeit an. Man kann immer nur optimistisch oder pessimistisch sein. Man kann zuversichtlich oder skeptisch eingestellt sein, aber niemals Realist sein. Natürlich ist das ein Schock für viele, wenn sie plötzlich erfahren, dass sie das, was sie immer zu sein glaubten, gar nicht sind. Aber ist es nicht ebenso ein Schock, dass das Prosa ist, was Sie hier lesen?



Mit den besten Grüßen!



Bernd Niquet



berndniquet@t-online.de

621Paul 05-02-2006 17:20

Was ist eigentlich Geld

von Dr. Bernd Niquet

Ein Gespenst geht um in den Weltfinanzen - das Gespenst der
uebermaessig ausgeweiteten Geldmengen. Und alle Maechte des
alten Establishments haben sich zu einer heiligen Hetzjagd
gegen dieses Gespenst verbuendet. Die Financial Community
teilt sich in dieser Hinsicht in zwei Gruppen auf: Die eine
Haelfte hat eine falsche Geldtheorie. Und die andere Haelfte
hat gar keine.

Die entscheidende Frage lautet: Was ist eigentlich Geld? Die
Ausfuehrungen der Wirtschaftswissenschaften zu diesem Thema
sind beschaemend. Es existieren so viele Gelddefinition wie
es unterschiedliche Theoriestroemungen gibt. Wenn die Aerzte
die Krankheiten genauso definieren wuerden wie die Oekonomen
das Geld, dann waeren wir alle schon laengst tot.

Im Endeffekt erleben wir damit eine Anti-Objektivierung und
Demokratisierung der Wissenschaft: Dem groessten gemeinsamen
Nenner wird die Regentschaft auf Zeit verliehen. Was Geld ist
und was nicht, ist nicht Resultat einer Sachentscheidung,
sondern ein Kompromiss der verschiedenen Auffassungen. Das
Geld regiert die Welt, doch keiner weiss eigentlich so genau,
was darunter zu verstehen ist. In der Tyrannei kannte man den
Unterdruecker noch sehr genau. In der Geldwirtschaft hingegen
bleibt der Regent ein Phaenomen - und der Einzelne der sub-
jektiven Spekulation ueberlassen. Was fuer ein Befund.

Und dann passiert auch noch das Schlimmste vom Schlimmen.
Ueber die Geldmenge M3, auf die sich zwischenzeitlich ein
grosser Konsens als relevante Gelddefinition geeinigt hat,
werden ab sofort von der US-Notenbank keine Zahlen mehr ver-
oeffentlicht. Nun droht also der absolute Blindflug. Zeter
und Mordio werden gerufen, und die Verschwoerungstheorien
spriessen aus dem Boden: Jetzt gehe es unserem Geldwesen an
den Kragen. Doch wie kann man eigentlich glauben, dass es dem
Geld an den Kragen geht, wenn gar nicht klar ist, was Geld
ist? Ein Phantom laesst sich doch nicht so einfach aufknuep-
fen.

Das Schwierige am Geld ist, dass es eine Doppelfunktion aus-
uebt. Geld ist einerseits der Wertstandard, in dem alles, was
selbst nicht Geld ist, bewertet wird. Und andererseits selbst
ein Aktivum. Wenn ich fuenf Aepfel besitze, die jeder einen
Euro wert sind, dann habe ich ein Vermoegen von fuenf Euro.
Aber ich habe kein Geld. Hier beginnt das grosse Missver-
staendnis des Geldes. Und es setzt sich fort, wenn man von
Aepfeln zu weit liquideren Anlageformen kommt.

Nehmen wir zuerst eine Staatsanleihe. Ist sie Geld? Nein,
denn ich kann mit ihr nicht bezahlen. Sie ist zwar in Geld
bewertet und zudem jeden Tag zu Geld zu machen, doch sie ist
selbst kein Geld.

Was ist mit einer Spareinlage? Ist sie Geld? Das ist schon
schwerer, denn um sie fuer Zahlungen einzusetzen, muss ich
sie nicht am Markt zu Geld machen, denn sie ist ja schon
irgendwie Geld. Allerdings kein richtiges Geld und ein
"Geld", das nicht heute, sondern erst spaeter verfuegbar ist.
Spareinlagen sind also kaum als Geld zu bezeichnen.

Und jetzt wird es ganz schwierig. Was ist mit den Sichteinla-
gen bei einer Geschaeftsbank? Sind sie Geld? Denn sie sind
taeglich verfuegbar und unbeschraenkt zu Zahlungen einsetz-
bar. Wo ist jetzt noch der Unterschied zu Bargeld, also zu
Geldscheinen oder Guthaben bei der Zentralbank? Das Fatale
ist, dass in normalen Zeiten hier kein Unterschied zu merken
ist. Im Gegenteil, Sichtguthaben erfuellen eigentlich viel
besser die Geldfunktion als das Bargeld, weil sie viel besser
zu transferieren und damit fuer Zahlungen zu benutzen sind.

Und dennoch ist es unsinnig, Sichteinlagen als Geld zu be-
zeichnen. Denn es gibt einen entscheidenden Unterschied:
Geldscheine und Guthaben bei der Zentralbank sind Forderungen
gegen die Zentralbank. Und Sichtguthaben bei Geschaeftsbanken
sind stets Forderungen gegen eine Geschaeftsbank. Geht die
Geschaeftsbank pleite, ist das Sichtguthaben futsch. (Und man
muss auf den Einlagensicherungsfonds hoffen.) Das Bargeld und
das Guthaben bei der Zentralbank bleiben davon hingegen unbe-
ruehrt.

Die Auswirkungen einer derartigen Interpretation unseres
Geldwesens fuer das Verstaendnis der gegenwaertigen Lage der
Weltfinanzen sind enorm. Aus Platzgruenden werde ich sie
Ihnen jedoch erst am naechsten Wochenende an dieser Stelle
naeher ausfuehren koennen.



++++++

Bernd Niquet ist Boersenkolumnist und Buchautor.

621Paul 12-02-2006 17:47

Alles in Ordnung mit unserem Geld

von Dr. Bernd Niquet

In der letzten Woche habe ich versucht, Ihnen eine passable
Gelddefinition zu praesentieren. Sie lautet: Nur Bargeld ist
Geld, also Geldscheine und Guthaben bei der Zentralbank. Denn
nur sie sind Forderungen gegenueber derjenigen Stelle, die
als einzige Bargeld emittieren kann. Sichtguthaben hingegen
sind immer Forderungen gegenueber einer Privatbank. Sie er-
fuellen zwar die Geldfunktion genauso gut wie Bargeld -
manchmal vielleicht sogar besser -, doch sie sind stets dem
Bonitaetsrisiko der Geschaeftsbank ausgesetzt.

Sichtguthaben und alle weiteren geldnahen Aktiva wie Termin-
guthaben und Spareinlagen koennen also stets nur in einem be-
stimmten Verhaeltnis zum Bargeld entstehen oder von den Ge-
schaeftsbanken "geschoepft" werden. Sie sind Forderungen fuer
den Halter und Verbindlichkeiten fuer die Bank - und damit
prinzipiell nichts anderes als die sonstigen Derivate. Hier
existiert ein ganz aehnlicher "Turm" von Forderungen und Ver-
bindlichkeiten, der auf einer streng limitierten Menge von
Zentralbankgeld errichtet wurde. Das ist prinzipiell das
Gleiche, wie es in der Finanzmaerkten bei Derivaten auf Ak-
tien, Rohstoffe oder sonstige Kontrakte der Fall ist.

Nun ist die Situation beim Geld jedoch einerseits einfach,
andererseits verzwickter. Denn da das Geld (im Gegensatz zu
den Aktien) der Wertstandard einer Geldwirtschaft ist (alle
Waren werden in Geldpreisen ausgedrueckt und nicht in Aktien-
preisen), ergibt sich fuer die Besitzer von Geldderivaten
(also Sichtguthaben etc.) ein Vorteil und ein Nachteil: Der
Vorteil ist, dass das Halten von Geldderivaten kein Kurs-
aenderungsrisiko beinhaltet (der Preis von einem Euro Geld-
derivat ist stets eins, also ein Euro). Der Nachteil ist
allerdings, dass der Halter jedoch stets dem Systemrisiko
ausgesetzt ist. Das bedeutet, wenn das Geldwesen als Ganzes
zusammenbrechen wuerde, dann leidet der Besitzer von Geld-
derivaten selbst dann darunter, wenn die Geschaeftsbank, ge-
gen die er seine Forderungen hat, eigentlich die beste Boni-
taet besitzt. Halter anderer Aktiva hingegen koennten davon
unberuehrt bleiben. Aktien, Devisen und Rohstoffe haben bei
einer Geldkrise sicherlich gute Chancen als Mittel zur Wert-
erhaltung zu fungieren und daher in ihrem Kurs deutlich zuzu-
legen.

So - das war jetzt ganz schoen kompliziert. Und was laesst
sich daraus folgern? Die wichtigsten Punkte sind fuer mich
die folgenden: Die Zentralbankgeldmengen sind weltweit nicht
sehr stark angestiegen. Was hingegen deutlich zugelegt hat,
sind die hoeheren Aggregate wie M3. Das jedoch heisst: Der
Geldumlauf hat sich keineswegs besorgniserregend gesteigert.
Es wird nur ein immer groesserer "Turm" darueber gebaut.

Muss uns das Sorgen machen? Einerseits denke ich nicht, denn
die institutionellen Veraenderungen des Finanzwesens haben
dazu gefuehrt, dass heute viel staerker mit Derivaten gear-
beitet wird. Mann muss dazu nur einmal einkaufen gehen und
beobachten, wie wenig Menschen ueberhaupt noch Geld benutzen.
Aber auch der Anlagesektor bietet geldnahe Aktiva in Huelle
und Fuelle, was bis vor einigen Jahren alles noch nicht der
Fall war, so dass alle Statistiken, die Vergleiche zu den
Siebziger und Achtziger Jahren anfuehren, deutlich hinken.

Auf der anderen Seite ist jedoch auch nicht zu verleugnen,
dass hier mittlerweile ein derart grosses Rad gedreht wird,
dass einem schwindeln kann. Die Buecher der Banken und Fi-
nanzinstitutionen blaehen sich immer staerker auf. Forderun-
gen und Verbindlichkeiten explodieren wie die Pilze nach ei-
nem warmen Regenguss. Ich muss nur an mein eigenes Depot den-
ken, bei dem die ABN Amro ueber die ganzen Rohstoffzertifi-
kate mittlerweile zum groessten Risiko geworden ist. Wenn
hier irgendein Unfall passieren wuerde ... Doch das sind nur
dumpfe Aengste ...

Wer allerdings Bargeld direkt haelt, braucht sich tatsaech-
lich keinerlei Sorgen zu machen. Man sollte beispielsweise
nur daran denken, dass die Zentralbankgeldmenge in den USA zu
mehr als hundert Prozent durch Gold gedeckt ist. Da sieht man
einmal, wie sehr der Augenschein doch oft taeuschen kann.
Dollarscheine sehen zwar aus wie Fetzen Papier, sind letzt-
lich jedoch hart wie Gold.

++++++

Bernd Niquet ist Boersenkolumnist und Buchautor.

Starlight 22-02-2006 07:50

100 Jahre André Kostolany

Von Bernd Niquet
Vor einer guten Woche wäre er hundert Jahre alt geworden, der „Altmeister“ der Börse, André Kostolany. Auch ich gehöre natürlich zu seinen Schülern – und auch mir ist es so gegangen wie vielen, dass ich schon in den frühen achtziger Jahren mit dem Buch in der Hand sehnsüchtig gestanden und auf ein Autogramm gewartet habe. Und natürlich, um vielleicht doch irgendwie eine ganz persönliche Einschätzung zu erhalten. Kosto, der erste und vielleicht einzige echte Popstar, den die Börse in den vergangenen Jahrzehnten herausgebracht hat.

Ich habe damals im Zeitschriftenarchiv alle alten „Capital“-Nummern herausgesucht, die Kosto-Kolumnen kopiert und zu einem dicken Buch binden lassen. Und natürlich die Bücher gelesen. Viele Dinge sind bis heute unübertroffen – und werden es wohl auch auf ewig sein. Alleine die Geschichte des Vergleiches von Wirtschaft und Börse mit dem Spaziergang von Herrchen und Hund. Beide kommen auf jeden Fall zur gleichen Zeit zu Hause an. Doch was zwischenzeitlich passiert, ist weder kalkulierbar noch wichtig. Denn man braucht sowieso die vier großen „G“, um an der Börse Erfolg haben zu können: Gedanken, Geduld, Geld und Glück. Fehlt nur eines davon, dann sieht es schlecht aus.

Kostolany hat das sogar auf eine Formel gebracht. Auch hier wieder unübertroffen. „An der Börse ist zwei Mal zwei stets fünf minus eins: 2*2=5-1.“ Ohne Berücksichtigung des Zeitfaktors ist also alles paradox. Die Gleichung geht erst dann auf, wenn genug Zeit verstreicht, um die Gedanken zur Geltung kommen zu lassen. Am meisten geschätzt habe ich stets Kostos Geisteshaltung. Den Kapitalismus zu verteidigen und ihn trotzdem kritisch zu sehen. Den Leuten etwas beibringen zu wollen, sich selbst aber nicht zu wichtig zu nehmen. Natürlich war er für die Tagesspekulanten nur ein alter Geschichtenerzähler. Doch wer bei Kostos Tod im Jahr 1999 ein Trader war, ist heute pleite. Und wieder hat der Altmeister Recht bekommen.

Ja, Kostolany war ein begnadeter Geschichtenerzähler. Und genau darin lag seine Größe! Schließlich steht eine explizite Theorie dahinter. Sie lautet: „Der Finanzmarkt ist eigentlich ein Theater, an dem immer wieder das selbe Stück gespielt wird, allerdings jedes Mal unter einem anderen Namen.“ Besser kann man das nicht sagen. Doch genau an dieser Stelle beginnt die Schwierigkeit beim Verstehen von Kostolanys Weisheiten. Und nicht nur dieser; es ist vielmehr ein allgemeines Problem:

Es gibt grundsätzlich zwei Arten des Verstehens – ein inneres und ein äußeres Verstehen. Unsere Wissenschaft reduziert sich auf das äußere Erkennen der Dinge. Hier werden Gesetzmäßigkeiten aufgestellt, welche zwischen den Dingen gesetzmäßige Beziehungen herstellen. Hierüber Bescheid zu wissen, ist wichtig. Es ist jedoch erst der erste Schritt. Der zweite Schritt ist es, dieses Wissen innerlich erlebbar zu machen. Und das geht nur durch eigene Erfahrungen. Das heißt: Kostolany kann man eigentlich erst dann wirklich verstehen, wenn man selbst erlebt hat, worüber er schreibt. Das ist natürlich paradox, weil seine Texte eigentlich schon beim ersten Lesen durchaus nicht einfach zu verstehen sind.

Doch wie sollte eine Lektüre über etwas Paradoxes wie die Börse diese angemessen beschreiben und selbst nicht paradox sein. Das ist völlig unmöglich. Genau an dieser Stelle unterscheiden sich denn auch die Kenner von den Anfängern: Das Schwere leicht nehmen, das kann jeder Dummkopf. Doch um das Leichte schwer zu nehmen, dafür braucht man mindestens zwanzig Jahre Börsenerfahrung.

Quelle: Instock.de

621Paul 16-04-2006 21:45

Alles nur ein Spiel?

von Dr. Bernd Niquet

Manchmal kommen mir Zweifel, wie lange das eigentlich noch
gut gehen kann so. Meistens passiert das dann, wenn ich mein
Depot durchgehe und die jeweils neuen Kurse eintrage. Irgend-
etwas geht da immer beinahe senkrecht in die Hoehe. Derzeit
kraenkelt der Dax etwas - zudem habe ich hier fast gaenzlich
Kasse gemacht - da schnellen die Rohstoffaktien in die Hoehe
als gaebe es kein Morgen mehr. Und unten auf der Strasse, da
schuften der Baecker, der Handwerker und der Besitzer des
Lebensmittelladens beinahe rund um die Uhr, um ihren Lebens-
unterhalt zu bestreiten.

Wer mit den Finanzen zu tun hat und sie einzusetzen weiss,
der wird immer reicher. Und wer nur seine Arbeitskraft hat,
wird immer aermer. Das ganze Leben ist nur ein grosses Spiel
ums Geld und mit dem Geld. Wir gleiten anscheinend nicht nur
mental, sondern auch wirtschaftlich und finanziell in die
Spielphase zurueck. Kann so etwas gut gehen? Eine Antwort
darauf ist nur schwer zu geben - und vor allem in den gaengi-
gen Kategorien gar nicht zu erfassen.

Der groesste Fehler der oekonomischen Theorie ist es aus mei-
ner Sicht, dass sie stets am arbeitenden, konsumierenden und
investierenden Haushalten und Unternehmen ansetzt. Dabei ent-
steht ein idealistisches Zerrbild, denn in Wirklichkeit ist
es wohl eher die Anhaeufung und Mehrung der Vermoegen, die
unser Wirtschafts- und Finanzsystem antreibt. Ich habe dazu
einmal geschrieben, dass frueher - vor den Weltkriegen sowie
in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg - die Versor-
gung der Menschen mit Guetern das primaere wirtschaftliche
Problem darstellte, das sich heutzutage jedoch radikal umge-
kehrt hat: Frueher wurden wir von einem Guetervakuum gezogen,
heute hingegen werden wir von einem riesigen Vermoegensberg
nach vorne getrieben.

Die herrschende Meinung verkennt in diesem Zusammenhang, dass
es sich hierbei um ein ganz normales Systemphaenomen handelt
und nicht um einen temporaeren Spezialfall, wie uns immer
wieder vorgegaukelt wird. Dahinter steckt natuerlich erneut
ein Theoriedefizit. Die gaengige Lehre verkuendet uns naem-
lich, dass es nur die Zentralbanken sind, die durch ihre
lockere Geldpolitik den Anlagebedarf schaffen, den wir gegen-
waertig beobachten und der die Kurse treibt. Doch nichts
koennte falscher sein.

Es ist nicht das Geld, das die Kurse treibt, sondern es ist
das Vermoegen. Je hoeher das Vermoegen der Leute, umso hoeher
die Kurse. Und umso hoeher die Kurse, umso hoeher die Vermoe-
gen. Man sieht sofort, dass wir es hier mit einer sich selbst
verstaerkenden Bewegung zu tun haben. Das System schaukelt
sich immer weiter nach oben - und zwar weitgehend ohne das
Zutun der Notenbanken. Das wird allerdings nicht verstanden,
weil fast alle Menschen das Bild im Kopf haben, dass es das
Geld ist, was die Kurse antreibt. Sie glauben, das Geld be-
faende sich auf der Suche nach Anlage. Dass dem allerdings
nicht so ist, zeigt bereits das einfache Gedankenspiel, dass
jedem Kauf immer ein Verkauf oder eine Neuemission gegenueber
steht. Und das heisst: Das Geld sucht zwar eine Anlage, aber
es kann aus prinzipiellen Gruenden keine finden, weil Geld
immer Geld bleibt und ein Asset immer ein Asset. Transforma-
tionen sind dabei prinzipiell ausgeschlossen. Aus Geld kann
nie eine Aktie werden und aus einer Aktie niemals Geld,

Steigt jedoch das Vermoegen, steigen also beispielsweise die
Aktien, dann zieht das Diversifizierungstendenzen nach sich,
was dazu fuehrt, dass anschliessend auch alle anderen Aktiva
ansteigen. Das Geld ist dabei nicht mehr als das "Medium of
Exchange", also das Mittel, in dem diese Transaktionen abge-
wickelt werden muessen. Seine Menge ist relativ egal, da sei-
ne Umlaufsgeschwindigkeit voellig flexibel ist.

Wie ist diesem Zirkel nun zu entkommen? Auf jeden Fall nicht
durch eine Reduktion der Geldmenge, weil dadurch das Vermoe-
gen nicht verkleinert wird. Sondern nur durch eine grosse
Vermoegensentwertung. In Gleichgewichten gesprochen: Das Ver-
moegen muesste so weit entwertet werden, bis sich die Arbeit
wieder lohnt. Doch welche Kraft koennte eine derartige Anpas-
sung erreichen?

Eigentlich geht es nur, wenn der Konsens der dauernden Ver-
moegensmehrung von innen her durchbrochen wird. Wenn aus dem
"Reichwerden" ploetzlich eine "Rette-sich-wer-kann-Strategie"
wird. Und hier spielen die Notenbanken natuerlich sehr wohl
eine Rolle. Im Jahr 2000 ist so ein ploetzlicher Bruch des
Konsenses passiert, und es grenzt an ein Wunder, dass nicht
ein oder zwei Generationen vergangen sind, bis man wieder
Vertrauen gefasst hat. Vielleicht kommt der richtige Knack-
punkt ja erst in den naechsten Jahren. Ostern jedoch werden
sicherlich noch keine Eier zerplatzen. In diesem Sinne ein
frohes Fest!


++++++

Bernd Niquet ist Boersenkolumnist und Buchautor.

621Paul 23-04-2006 11:01

Berlusconi-oder: Woher der nächste Diktator ?
 
von Dr. Bernd Niquet

Ueber das Osterfest habe ich einen bemerkenswerten Aufsatz
von Jan Henrik Stahlberg gelesen, der gerade seinen neuen
Film "Bye, bye, Berlusconi" herausgebracht hat. (Quelle: Die
Welt, 15.4.2006). Was waere, so fragt Stahlberg, wenn Berlus-
coni nur ein Vorreiter einer generellen Entwicklung waere?
Natuerlich ist ein Mann wie Berlusconi, vergleicht man
Deutschland und Italien, wohl nur in Italien und nicht bei
uns moeglich. Doch das Prinzip besitzt auch bei uns Gueltig-
keit.

Worum geht es beim "Prinzip Berlusconi"? Die etablierte Poli-
tik hat ihre Handlungsfaehigkeit und vor allem ihre Glaub-
wuerdigkeit verloren. Niemand vertraut mehr darauf, dass die
Politik unsere Probleme loesen und das Auseinanderdriften
unserer Gesellschaften verhindern kann. Die Menschen haben
den Eindruck, alles bleibe im Dickicht des Parteidenkens ste-
cken. Nichts geht mehr.

Und dann, so Stahlberg, kommt ploetzlich einer daher, der
sagt: Schluss damit! Jemand, der selbst kein Politiker ist,
sondern jemand, der sich von ganz unten nach ganz oben hoch-
gearbeitet hat, es also bewiesen hat, dass so etwas geht.
Jemand, der sich nicht beschneiden laesst und sich nicht ein-
flechtet in den politischen Proporz, sondern der genauso die
Schnauze voll hat wie der Buerger selbst.

Und selbst wenn er irgendwo Dreck am Stecken hat: Ist er
nicht dennoch viel glaubwuerdiger als die Sesselfurzer, Be-
denkentraeger und Selbstbereicherer in der Politik? Und was,
wenn er sogar keinen Dreck am Stecken hat? Wenn er vollkommen
untadelig ist?

Hier nun beginnt das Gedankenexperiment. Und ploetzlich sind
wir in Deutschland. Stahlberg weist darauf hin, dass un-
laengst der Fernsehmoderator Guenther Jauch in einer "Volks-
umfrage" zum "liebsten Bundeskanzler" gekuert worden ist -
und schreibt: "Und was waere, wenn dieser Kandidat, der also
ganz anders waere als Berlusconi, aber eben neu und unver-
braucht, wenn er versprechen wuerde mit diesem ganzen politi-
schen Filz aufzuraeumen? Wenn er vorgeben wuerde, endlich
auch dem kleinen Mann die Fesseln zu lockern? ... Was waere,
wenn da ein unglaublich erfolgreicher Mann sagen wuerde, er
ginge in die Politik, um den Karren aus dem Dreck zu ziehen?
Und was waere, wenn dieser Mann dann auch noch den Medien
genehm waere?"

Ich denke, man kann gegenwaertig wohl kaum relevantere Fragen
stellen. Wer jetzt allerdings versucht, noch weiter zu den-
ken, begibt sich auf eine extreme Gratwanderung. Ein zerfal-
lendes System laesst sich sicherlich nicht von innen, sondern
nur von aussen reformieren. Das Nervendste unserer aktuellen
Gegenwart ist das andauernde Hick-Hack, der ewige Streit zwi-
schen ewig gleichen Protagonisten, der entweder nie aufhoert
oder aber in einem faulen Kompromiss fuer alle Seiten endet.
Doch wie saehe dagegen eine darueber stehende Vernunft aus?
Und vor allem: Was passiert mit denjenigen, die eben nicht
der Meinung sind, dass das, was die Mehrheit fuer vernuenftig
haelt, vernuenftig ist?

Je weiter man vordringt, desto groesser werden also die Fra-
gen. Das Stellen der richtigen Fragen bringt keine Antworten,
sondern nur noch weitere Fragen. Doch die Menschen wollen
Antworten. Wahrscheinlich ist dieser Themenkreis daher fuer
unsere Zukunft wichtiger als die Demografie, die Rente, die
Krankenkassen, der Iran und vielleicht sogar als die Roh-
stoffpreise.


++++++

Bernd Niquet ist Boersenkolumnist und Buchautor.

621Paul 30-04-2006 10:52

Die Finanzierung unseres Lebens

von Dr. Bernd Niquet

Fuer mich ist es ein grauenvoller Befund: Heutzutage kann man
nicht einmal mehr irgendwo auf die Toilette gehen, ohne dabei
von einem Grossunternehmen gesponsert zu sein. Nichts geht
heute mehr ohne den Zuspruch von oben. Musikbands werden von
Konzernen wiedervereint und finanziert, der Sport hat sich
vollends den Unternehmen unterworfen, Film und Fernsehen wer-
den von der Werbung ebenso dominiert wie die Stadtbilder.
Ohne das alles geht nichts mehr. Graffiti wird angeprangert,
Werbeplakate hingegen nicht. Und jetzt macht man nicht einmal
mehr vor dem Klo Halt. Koennen wir so etwas eigentlich wol-
len?

Nicht nur unsere Gesellschaft driftet immer staerker ausein-
ander, den einen geht es immer besser, die anderen hingegen
werden immer aermer. Auch unsere gesamte Oeffentlichkeit
spaltet sich entzwei. Auf der einen Seite werden die Dinge
staendig gigantischer, die Filme aufwaendiger, die Sportler
immer teurer, die oeffentliche Aufmerksamkeit groesser und
das Publikum zahlreicher - und auf der anderen Seite gibt es
stetig wachsende Nischen, in denen jeder alles machen und
sagen kann, in denen die Aufmerksamkeit jedoch aeusserst be-
grenzt ist.

Wir haben es also mit zwei sich eigentlich widersprechenden,
aber dennoch parallel laufenden Tendenzen zu tun: Hier eine
weitgreifende Gleichschaltung, dort eine unglaubliche Hetero-
genisierung. Auf der einen Seite wird uns eine immer giganti-
schere Einheitsglocke uebergestuelpt, andererseits waren die
Freiheiten und Chancen, etwas Eigenes zu machen, noch niemals
so gross wie heute.

Was ist nun der entscheidende Unterschied zwischen beiden
Entwicklungen? Bezogen auf den einzelnen Menschen ist die
eine aussengesteuert, die andere hingegen von innen gesteu-
ert. Der sich allem bemaechtigende oeffentliche Einheitsbrei
wird uns vorgesetzt, ob wir wollen oder nicht. Die Nischen
hingegen koennen und muessen wir uns selbst schaffen und ent-
decken. Um diesen Sachverhalt einmal zu verbildlichen, koenn-
te man sagen: Auf unserem Lebensweg fliegt uns taeglich zu-
nehmend lauter Mist um die Ohren. Es wird immer schwerer,
sich durch diesen Hoellensturm aus Irrelevantem, Billigem,
Imitiertem und Willkuerlichem durchzukaempfen und darueber
nicht zu vergessen, was man an wirklich Wertvollem in sich
traegt.

Beinahe alles, was uns in der Welt der grossen und breiten
Oeffentlichkeit um die Koepfe schwirrt, hat mit wirklichem
Wert nichts zu tun. Es sind Konsumprodukte, darauf getrimmt,
besonders gut und problemlos verbraucht zu werden. Ob wir sie
in den Mund nehmen, in die Nase pusten, in die Ohren schwin-
gen, in unser Wertpapierportfolio aufnehmen oder in den Hin-
tern stecken ist letztlich egal. Alle derartigen Produkte
sind nichts anders als eben Produkte. Bezeichnenderweise
kommt das Wort "Produkt" vom lateinischen "producere = vor-
fuehren"; das Produkt ist also das Vorgefuehrte, die Vorfueh-
rung. Es ist zeitgemaess, sonst wuerde es sich nicht verkau-
fen, und es ist deshalb stets dem Verfall ausgesetzt. Und
manchmal muss man sich in der Tat fragen, wer denn hier nun
vorgefuehrt wird, das Produkt oder der Konsument und der In-
vestor.

Heute laufen die Aktien, gestern die Bonds und morgen die
Zertifikate. Alles in Gang gesetzt von einer riesigen Werbe-
maschine. Bezahlt wird mit Papiergeld, doch die Aktien, Bonds
und Zertifikate gibt es nicht einmal auf Papier. Wer mit-
macht, der wird reich. Doch kann er seinen Reichtum ueber die
Zeit sichern? Zweifel sind sicherlich angebracht und gehoeren
zum System. Doch nicht nur die Zweifel, auch die temporaeren
Entwertungen gehoeren zum System. Der Ballon bleibt nur im
Gleichgewicht, wenn er ab zu einmal Luft ablaesst. Vielleicht
sollte man dem allen doch etwas Zeitloses, Echtes und
Bestaendiges entgegen setzen. Auch wenn damit die Sinkge-
schwindigkeit sukzessive zunimmt.


++++++

Bernd Niquet ist Boersenkolumnist und Buchautor.

621Paul 07-05-2006 10:43

Nichts als neue Buerokratie

von Dr. Bernd Niquet

Jetzt hat die Koalition also das Elterngeld beschlossen. Wer
Kinder bekommt und dafuer im ersten Jahr zur Kinderbetreuung
zu Hause bleibt, erhaelt Geld vom Staat. Von der Intention
her sicher eine richtige Massnahme. Ob sie viel bringt, steht
freilich auf einem anderen Stern. Doch das Entscheidende ist:
Wir alle versinken durch das Elterngeld noch tiefer im Stru-
del der Buerokratie. Es ist so hoffnungslos, dass man eigent-
lich nur noch weinen kann.

Ich erinnere mich noch an die Feststellung der Entgelthoehe
fuer den Kindergartenplatz unserer Tochter. Beitragseinstu-
fung nach dem Kita- und Tagespflegekostenbeteiligungsgesetz
heisst das, und es bedeutet die Einreichung von Gehaltsab-
rechnungen und wenn nicht vorhanden des Einkommensteuerbe-
scheids, dann das Anlegen einer Akte, das Verwalten einer
Akte, das Legen auf Wiedervorlage ... und die Frage, wie das
nur alles beim Elterngeld werden soll?

Da brauchen wir sicherlich eine voellig neue Behoerde. Also
her mit der Elterngeldbehoerde! Was wird man da wohl alles
einreichen muessen fuer den Bezug des Elterngeldes? Die Ge-
burtsurkunde des Kindes, Anmeldung beim Einwohnermeldeamt,
Bescheinigungen des Arbeitgebers, schriftliche Festlegung des
temporaeren Ausstiegs aus dem Job, Gehaltsabrechnungen, die
letzten drei Einkommensteuerbescheide, eidesstattliche Versi-
cherung, dass man tatsaechlich zur Kinderpflege den Job ruhen
laesst, Bankverbindung und sicherlich noch jede Menge anderer
Unterlagen dazu. Berge von Frageboegen werden zu beantworten
und von der Behoerde computermaessig zu erfassen, zu kontrol-
lieren, nachzupruefen und auf die Fristigkeiten zu ueberwa-
chen sein.

Sind wir eigentlich alle vollkommen verrueckt geworden?

Warum gewaehrt man Eltern nicht einen steuerlichen Freibetrag
oder eine Steuersubvention. Oder setzt die Steuersaetze fuer
Eltern herab. Hier wird doch wieder nur der naechste Wasser-
kopf geschaffen, mit neuen Buerokraten und vielleicht sogar
einem neuen Gesetz und einer neue Behoerde. Bald koennte es
also kommen, das Elterngeldgewaehrungsgesetz. Und dann das
erste Korrekturgesetz des Jahres 2007 zum Elterngeldgewaeh-
rungsgesetzes des Jahres 2006. Und immer so fort.

Waehrend wir uns immer tiefer im selbstfabrizierten Dschungel
verstricken, verbringen viele anderen Nationen ihre Zeit mit
produktiver Arbeit. Das scheint mir ein viel wichtigerer
Punkt unserer Konkurrenzprobleme zu sein als dieses andauern-
de enervierende Gerede ueber die vermeintlich so hohen Loehne
in unserem Land.

Ich selbst denke immer mit einigem Grauen an den Mai. Denn da
heisst es die Einkommensteuererklaerung zu fabrizieren. Tau-
sende von Zahlen, Hunderte von Belegen, und wenn ich gut und
schnell bin, schaffe ich es an einem Wochenende. Hinzu kommt
natuerlich die Umsatzsteuererklaerung - und hier die besonde-
re Schwierigkeit, die vierteljaehrlichen Voranmeldungen nun
in einer Gesamterklaerung zusammenzufassen und das Ganze dann
auch noch mit der Einkommensteuererklaerung abzugleichen.

In diesen Tagen im Mai denke ich dann nicht nur, sondern bin
mir voellig sicher, dass wir alle kollektiv den Kopf verloren
haben. Das Gleichnis mit dem Seefahrer Stoertebeker draengt
sich auf, der mit abgeschlagenem Kopf und nur noch einem Ziel
durch die Gegend wankt, wenigstens noch einige der Seinigen
zu retten.


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Bernd Niquet ist Boersenkolumnist und Buchautor.

621Paul 14-05-2006 18:08

Das Bildnis unserer Gesellschaft

von Dr. Bernd Niquet

Eigentlich mag ich es ja nicht, Entwicklungen von Nationen
und Gesellschaften mit den Entwicklungen einzelner Menschen
zu vergleichen - doch hier draengt sich der Vergleich in ei-
ner Art und Weise auf, dass ich ihn nicht mehr umgehen kann.

Wie ist es eigentlich, wie laeuft das Leben eines Menschen
ab?

Meine Beobachtungen sehen folgendermassen aus: In der Jugend
ist man frei und risikolustig. Alles ist moeglich und nichts
ist wirklich gefaehrlich. Alles ist erlaubt - und wer viel
verbietet und erschraenkt, ist nur ein alter Spiesser. Regeln
sind nur fuer das ganz Grobe und fuer die wenigsten Dinge
erforderlich, ansonsten schraenken sie einen nur ein und ver-
hindern den Spass und die Kreativitaet.

Dann wird man aelter, steigt in die Berufswelt ein, lehnt
sich erst gegen das ganze neue Regelwerk auf, arrangiert sich
dann aber frueher oder spaeter und mehr oder weniger damit.
Und dann spielt man mit - und wird selbst aktiv. Auf der be-
ruflichen wie auf der persoenlichen Ebene.

Frueher war es egal, ob man auch bei kaltem Wetter nur ein
T-Shirt anhat oder sich auf einen kalten Stein setzt. Mit
zunehmendem Alter ist das jedoch alles nicht mehr so leicht,
weswegen man Regeln und Gesetze fuer sich selbst erfindet:
Wer zu duenne Sachen anhat, bekommt eine Erkaeltung! Setz
dich nicht mehr auf kalte Unterlagen, sonst passiert etwas
mit der Blase oder der Prostata!

Essen muss man jetzt ebenfalls regelmaessig. Vorher war es
egal, wann und was man zwischen die Kiemen bekam. Beim Alko-
hol ebenfalls. Doch heute gibt es festgelegte Zeiten, festge-
legte Orte, festgelegte Mengen und festgelegte Inhalte und
Zutaten. Man fuehlt sich so wohler, man liebt die selbst ge-
setzten Regelmaessigkeiten - und zwar gleich aus zwei Gruen-
den: Einerseits geht es einem dadurch besser und andererseits
ist man damit zudem leistungsfaehiger.

Bald jedoch kommt ein weiterer Schritt: Bestimmte Dinge kann
man nicht mehr tun, andere muss man jetzt tun fuer die Ge-
sundheit. Dann muss man zum Arzt und zur Kur - und alle diese
Unternehmungen rauben einem so viel Zeit, dass man zu den
wichtigen Dingen gar nicht mehr kommt. Man muss ja auch
nichts wirklich Wichtiges mehr tun, denn im Grossen und Gan-
zen ist man abgesichert und ob und was man jetzt tut, sind
doch beinahe nur noch Marginalien. Es geht um nichts mehr
wirklich. Es geht nicht mehr um Kopf und Kragen wie in der
Jugend, um grosses Glueck und himmelschreiendes Elend, son-
dern nur noch um matte Schattierungen von Pastelltoenen.

Eigentlich wuerde man ja noch einmal einen grossen Angriff
wagen, doch andererseits geht es einem doch viel zu gut da-
fuer. Warum also dir Aufregung. Langsam verstrickt man sich
immer mehr - und zwar sowohl in aeussere wie selbstgesetzte
Verordnungen, was man tun darf oder muss und was auf jeden
Fall zu unterlassen ist. Und das Ende der Tage verbringt man
dann damit, dass das Schreiben einer einzigen Postkarte zur
tagesfuellenden Beschaeftigung wird. Es ist ja auch sehr
muehsam und kompliziert, schliesslich muss man die Karte kau-
fen, sich auf der Post fuer die Briefmarke anstellen, die
Adresse heraussuchen, sich einen Text einfallen lassen und
dann auch noch zum Briefkasten gehen.

Irgendwann stirbt man - und neue, juengere Menschen ueberneh-
men das Zepter. Diese Tatsache ist das Einzige, denke ich,
was verhindert, dass das eben geschilderte Beispiel eine hun-
dertprozentige Uebereinstimmung mit der Entwicklung unseres
Landes aufweist.


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Bernd Niquet ist Boersenkolumnist und Buchautor.

621Paul 21-05-2006 12:53

Es lebe die grosse Koalition

von Dr. Bernd Niquet

Das Leben ist ja sonst nicht so lustig, da sollte man schon
ab und zu mit lustigen Menschen sprechen, sagt der lustige
Mensch, mit dem ich in diesem Moment spreche. Denn alle Vor-
stellungen, die wir uns machen, sind doch immer falsche Vor-
stellungen, es sind immer Vorstellungen von Vorstellungen und
niemand kann sich so recht vorstellen, dass man sich schon
falsch vorstellt, wovon man hinterher erst recht eine falsche
Vorstellung hat. Das Tatsaechliche ist also tatsaechlich im-
mer anders, oft sogar das Gegenteil von dem, was man sich
tatsaechlich die ganze Zeit ueber vorgestellt hat.

Unsere Regierung muss jetzt also die Steuern erhoehen, sagt
der lustige Mensch, mit dem ich in diesem Moment spreche, und
zwar deswegen, um den Menschen, die dadurch weniger Geld in
der Tasche haben, wieder mehr Geld in die Taschen zu geben.
Das kann man nun verstehen oder nicht, wobei es voellig egal
ist, was man sich vorstellt oder was man sich nicht vor-
stellt, denn die Tatsachen sprechen doch tatsaechlich immer
fuer sich selbst.

Wir haben die groesste Steuererhoehung seit 1949. Jetzt nimmt
man den Reichen das Geld weg, um es den Armen zu geben, weil
man es vorher und jetzt auch noch einmal den Armen genommen
hat und nimmt, um es den Reichen zu geben - und ausserdem hat
die Mehrheit der Bevoelkerung ja klar fuer die grosse Koali-
tion gestimmt. Man muesse sich da nur die Wahlergebnisse an-
schauen, sagt der lustige Mensch, dann sehe man, dass das
richtig ist und dass es natuerlich voelliger Unsinn sei, dass
letztlich niemand fuer die grosse Koalition gewesen waere, da
doch das Wahlergebnis eben tatsaechlich etwas ganz anders
aussage, und zwar voellig egal, ob man sich das jetzt nun so
vorstelle oder nicht.

Und wenn man nicht mehr nehmen koenne, dann muesse man eben
an anderer Stelle weniger geben, um eben an der richtigen
Stelle das Richtige geben zu koennen. Wenn man jetzt das Kin-
derkriegen foerdern wolle, dann waere das beschlossene El-
terngeld natuerlich die richtige Massnahme, meint er.
Schliesslich koennen die Kinder selbst mit dem Geld nichts
anfangen, weswegen es auch durchaus folgerichtig ist, wenn
man zur Finanzierung des Elterngeldes das Kindergeld kuerzen
wuerde.

Wenn das schliesslich nicht reichen wuerde, meint er, und die
grosse Koalition ist da ganz mit ihm einig, dann muesse man
den Eltern eben an anderer Stelle Geld wegnehmen, um ihnen
dann zielgerichtet das Elterngeld gewaehren zu koennen. Na-
tuerlich sei es vorstellbar, meint er weiter, dass das El-
terngeld, dass der Staat fuer das Elternsein gewaehrt, letzt-
lich zweckentfremdet werden koennte und zur Begleichung der
Steuerschuld benutzt werden koennte, welche die Steuererhoe-
hung zur Finanzierung des Elterngeldes im Budget der Eltern
geschlagen habe. Doch daraus einen geschlossenen Kreislauf
abzuleiten, bei dem das Elterngeld komplett wieder zum Staat
zurueckfliessen wuerde und sich so letztlich selbst finanzie-
ren wuerde, waere natuerlich in Anbetracht der Kinder, die ja
nun zusaetzlich mit der Kuerzung des Kindergeldes zurechtkom-
men muessten und der nachfolgenden Generationen, von denen
man nun nicht mehr genau wisse, ob sie durch diese Massnahmen
nun zahlreicher oder weniger werden wuerde, eine gaenzlich
falsche Vorstellung, ueber die man wirklich nur lachen koen-
ne.

Weiterhin lachen solle man ueber die Mehrwertsteuer, die Ver-
sicherungssteuer, den Sparerfreibetrag, die Pendlerpauschale,
das Arbeitszimmer, den Spritaufschlag und die geldwerten
Leistungen, weil einem ja sonst sowieso nichts anderes uebrig
bleiben wuerde. Schliesslich muessen die Subventionen fuer
die Unternehmen, die man eigentlich streichen wollte, aber
nicht streichen konnte, weil sich niemand mehr im Dickicht
zurechtgefunden hatte, nicht einmal der groesste Koalitio-
naer, ja irgendwie finanziert werden.


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Bernd Niquet ist Boersenkolumnist und Buchautor.

621Paul 28-05-2006 09:24

Wie entsteht eigentlich Vermoegen?

von Dr. Bernd Niquet

In den vergangenen zwei Wochen hat es an den Maerkten heftig
eingeschlagen. Interessant daran ist, dass damit genau spie-
gelverkehrt die Ereignisse des Vorjahrs konterkariert wurden:
2005 ist alles gestiegen, Aktien, Bonds, Renten und Devisen.
Es war egal, was man gekauft hatte, es ist alles gestiegen.
Im jetzigen Mini-Crash ist hingegen alles gefallen: Aktien,
Bonds, Renten und Devisen. Es war egal, was man gekauft hat-
te, es ist alles gefallen.

Viele Leute mag erstaunt haben, dass es die Rohstoffe und
insbesondere die Edelmetalle dabei am meisten erwischt hat.
Hatte man nicht gerade Gold und Silber als Versicherung gegen
den Crash angeschafft? Und nun musste man erleben, dass gera-
de diese Versicherungen im Mini-Crash am staerksten unter die
Raeder kamen. Ich denke, wir muessen das alle als eine Lek-
tion betrachten: Sollte es wirklich einmal hart auf hart kom-
men, also ein wirklicher Crash oder Schlimmeres anstehen, wie
ja viele Leute heute so vehement befuerchten, dass sie dieses
Ereignis schon beinahe herbei sehnen, dann gibt es nur eine
Vermoegensanlage, die nicht an Wert verliert - und das ist
das Geld! Bargeld! Cash!

Was anschliessend, nach dem Crash dann passiert, steht in den
Sternen. Doch wer sich fuer den Ausbruch des Schlimmsten
wappnen will, fuer den gibt es nur eines: Genug Bargeld hal-
ten! "Nach dem Gelde draengt, am Gelde haengt doch alles",
muss man folglich auch Goethe heute korrekt in die Gegenwart
uebersetzen.

In den vergangenen zwei Wochen ist viel Vermoegen vernichtet
worden. Doch was ist das eigentlich fuer Vermoegen? Wie ist
es entstanden? Oder noch allgemeiner: Wie entsteht eigentlich
Vermoegen?

Im Grunde genommen gibt es zwei verschiedene Wege der Entste-
hung von Vermoegen: Einerseits, indem in einer Gesellschaft
mehr erwirtschaftet wird als anschliessend verbraucht wird.
Es wird eine bestimmte Menge an Guetern (und Dienstleistun-
gen) hergestellt und ein identisch hohes Einkommen erwirt-
schaft, doch es werden nicht alle Einkommen in dieser Periode
fuer den Konsum verausgabt, sondern gespart und investiert.
Dies ist der muehsamere der beiden Wege, da jedem Vermoegens-
zuwachs ein Verzicht an Konsum entspricht. Man rackert sich
ab, kann jedoch die Fruechte der Arbeit nicht verspeisen,
also nicht direkt geniessen, weil man diese Fruechte trocknet
und fuer die Zukunft aufbewahrt. Natuerlich gibt es auch ge-
nussvolle Ersparnisse und Investitionen, wenn man sich bei-
spielsweise ein Haus baut. Doch konsumieren kann man diesen
Betrag dann nicht.

Der zweite Weg der Vermoegensentstehung ist derjenige der
Bewertungsaenderungen. Fuer diese Vermoegensaenderungen muss
nur bedingt gearbeitet werden (Mehrleistungen in Aktienge-
sellschaften zur Gewinnsteigerung, die anschliessend die Ak-
tienkurs erhoehen) und kein Verzicht bei der Verwendung von
Einkommen zu Konsumzwecken geleistet werden. Doch es muss ein
anderer Verzicht geleistet werden, was aus den Vermoegens-
aenderungen ein wahrlich teuflisches Spiel macht. Denn jedes
Investment in Aktien, Bonds, Rohstoffe oder Devisen ist nur
moeglich, wenn man gleichzeitig auf die Liquiditaet des Ver-
moegens verzichtet. Realisierungen von Vermoegenszuwaechsen
sind daher fuer die einen nur dann moeglich, wenn die anderen
gleichzeitig auf ihre Liquiditaet verzichten.

Die Boersen und Finanzmaerkte sind nichts anderes ein Ringel-
spiel. Wie gewonnen, so zerrinnen die Vermoegenszuwaechse
hier immer wieder. Man sollte also nicht zu viel Vermoegen,
das durch Konsumverzicht entstanden ist, den Spielereien der-
jenigen aussetzen, die auf nichts weiter als temporaere Li-
quiditaet verzichten.


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Bernd Niquet ist Boersenkolumnist und Buchautor.

621Paul 04-06-2006 13:38

Sigmund Freud und der Aktienmarkt

von Dr. Bernd Niquet

Aus gegebenem Anlass zu Sigmund Freuds 150. Geburtsjahr
moechte ich heute einmal auf eine regelrecht gespenstische
Parallele zwischen unserer zeitgenoessischen Betrachtung des
Werkes von Sigmund Freud und unserem aktuellen Verstaendnis
des Aktienmarktes hinweisen. Interessant ist dies besonders
in Hinsicht auf unseren Fortschrittsglauben, auf unseren
Glauben, mit unseren Theorien und Erklaerungen uns immer wei-
ter der "Wirklichkeit" anzunaehern, also immer klueger zu
werden, denn an diesem Glauben kann und darf man durchaus
Zweifeln.

Lassen Sie mich zur Vereinfachung einerseits von "frueheren
Zeiten" andererseits vom "Heute" reden. Machen Sie sich ein-
mal den Spass und nehmen Sie einen Boersenbericht aus einer
Zeitung des Jahres 1926 zur Hand und vergleichen Sie ihn mit
demjenigen des Jahres 2006. Was sind die Unterschiede? Im
Jahre 1926 taucht in jedem Boersenbericht auf, dass sich an
der Boerse immer zwei Parteien gegenueber stehen, die Haus-
siers und die Baissiers. Dadurch wird verstaendlich, dass die
Boerse stets ein Gleichgewicht bildet zwischen den Erwartun-
gen beider Parteien. Heute hingegen lesen Sie stets ueber
"die Anleger". "Die Anleger kaufen wieder Aktien" oder "Die
Anleger kehren dem Markt den Ruecken". Gegen die Marktberich-
te von frueher muten die heutigen steinzeitlich an. Oder le-
sen Sie das aelteste Buch ueber die Boerse, "Die Verwirrung
der Verwirrungen" aus dem Jahr 1688, das von André Kostolany
1994 neu herausgegeben worden ist. Es bestaetigt diesen Be-
fund sehr deutlich.

Frueher haette zudem niemand gewagt, die Boerse oeffentlich
prognostizieren zu wollen, wie das heute tagtaeglich pas-
siert. Hier wurden die Argumente beider Seiten dargestellt
und das Urteil dem jeweiligen Leser ueberlassen. Man war sich
einfach der Schwierigkeiten besser bewusst. Heute hingegen
wird mit den ausgefeiltesten mathematischen Modellen noncha-
lant die Kursentwicklung prognostiziert, womit allerdings
kaum ein Erkenntnisgewinn, sondern nur das Erezeugen einer
Illusion verbunden ist.

Das bringt uns zu Sigmund Freud. Freuds bahnbrechende Er-
kenntnisse waren unter anderem, dass der Mensch in weiten
Teilen von Unbewusstem und Verdraengtem gesteuert wird, dass
diese Verdraengungen aus der fruehesten Kindheit resultieren
und im Rahmen einer psychoanalytischen Behandlung aufgedeckt
und beseitigt werden koennen. Heute hingegen ist man der Mei-
nung, dass das alles gar nicht mehr notwendig ist, weil es zu
lange dauert, zu teuer ist und der Erfolg nicht durch eine
naturwissenschaftliche Theorie garantiert ist.

Heute misst man Hirnstroeme und untersucht Nervenzellen. Da-
mit wird der Mensch nahtlos in die naturwissenschaftliche
Theorie eingemeindet. Alles, was nicht in naturwissenschaft-
lichen Gesetzmaessigkeiten fassbar wird, ist ploetzlich un-
wissenschaftlich oder bestenfalls halbwissenschaftlich. Der
Mensch wird nicht mehr als ein Wesen verstanden, dass durch
die Innerlichkeit seiner Erlebnisse und Erfahrungen determi-
niert ist, sondern wird dem rein aeusserlichen Messen, Zaeh-
len und Wiegen preisgegeben. Die Analogie zur oekonomischen
Theorie und zur heutigen Analyse und Prognose der Boerse
koennte nicht deutlicher zu Tage treten.

Was dabei schliesslich konkret heraus kommt, ist in der Psy-
chologie teilweise noch haarstraeubender als an den Maerkten.
So haben Psychologen beispielsweise Messungen durchgefuehrt,
dass bereits eine halbe Sekunde bevor ein Mensch den Ent-
schluss fasst, seinen Arm zu heben, Nervenzellen aktiv wer-
den, die den Arm steuern. Daraus wird geschlossen, dass es
nicht der Wille sein kann, der uns Menschen steuert, sondern
wir voellig unserer Hirnchemie und unserer Hirnstroeme unter-
worfen sind, die es noch zu untersuchen gilt. Der autonome
und eigenstaendig entscheidende Mensch verschwindet damit aus
der Psychologie ebenso wie aus der Theorie der Maerkte. Und
der Triumph der Naturwissenschaft ist vollkommen, die Natur-
wissenschaft hat den Menschen abgeschafft.

Doch dann ploetzlich krachen die Maerkte zusammen und Men-
schen laufen Amok. Und die Naturwissenschaft mit ihren mathe-
matischen Modellen, Hirnchemie und Hirnstroemen bleibt ratlos
zurueck.

621Paul 04-06-2006 16:55

Irrtümer der Anlegerpsychologie
09:58 03.06.06




Die Anleger sind dumm und frech, hat der alte Berliner Bankier Carl Fürstenberg vor weit über hundert Jahren gesagt, dumm, weil sie Aktien kaufen, und frech, weil sie dann auch noch eine Dividende haben wollen.



Heute hat sich diese Wahrheit deutlich verändert. Heute fällt der zweite Punkt weitgehend weg, weil kaum mehr jemand eine Dividende verlangt, dafür beobachten wir gewaltige Multiplikationsprozesse in Hinsicht auf den ersten Punkt. Zu Fürstenbergs Zeiten besaß man noch die Demut, einen Markt als einen Markt zu betrachten, als ein unüberschaubares Ganzes, dass sich der vollständigen Beschreibung und damit auch jeder detaillierten Prognose naturgemäß entzieht. Heute hingegen sind überall unerfüllbare Erwartungen eingezogen, selbst dort, wo man es kaum vermutet.



Kaum ein Anleger wird sich der Behauptung entziehen, dass ein Grossteil der Börsenentwicklung Psychologie ist. Doch das ist natürlich völlig falsch und zeigt nur wieder einmal, wie oft doch die Menschen ungeprüft Dinge nachplappern und wie wenig selbst nachgedacht wird. Denn die Psychologie ist die Wissenschaft von der menschlichen Psyche, die wiederum als die Gesamtheit der bewussten und unbewussten seelischen Vorgänge und geistigen Funktionen des Menschen definiert ist. Die Börsenentwicklung kann also in großen Teilen durch die Psyche bestimmt werden, kann aber niemals Psychologie sein, weil das eine Berechenbarkeit unterstellt, die jedoch mit dem Marktverhalten unvereinbar ist.



Zu meiner großen Verblüffung gibt es jedoch tatsächlich Menschen, die an eine derartige Berechenbarkeit glauben. In der neuen Ausgabe des „Smart Investor“ schreibt beispielsweise Diplom-Psychologin und Master Certified Coach Monika Müller: „Heute steht fest: Ja, es ist möglich, den Markt mit Hilfe der Psychologie besser zu erfassen.“ Abschließend werden ein paar Idealtypen, die schon seit dem Untergang der Historischen Schule zu Fürstenbergs Zeiten, Gott hab´ sie selig, das Zeitliche gesegnet haben, konstruiert, Monika Müller spricht von Ankereffekt, Framing, Primacy- und Regency-Effekt, Endowment-Effekt, Dispositionseffekt und Prospect-Theorie, und das wird dann „Psychologie“ genannt und geschrieben „Finanzpolitische Erkenntnisse geben dem Anleger wertvolle Hinweise für erfolgreichere Entscheidungen“ und „Freuen Sie sich auf unsere Tipps und Tricks in den nächsten Ausgaben“ und ich denke dann nur „Prost Mahlzeit“ und kann kaum noch an mich halten und denke kopfschüttelnd daran, wie man tatsächlich in Wirklichkeit so einfach denken kann, dass alles so einfach wäre und warum niemand auf die Idee kommt, dass das doch nicht so einfach sein kann und warum trotzdem so viele Leute einfach ihr Geld für so viel Einfachheit hergeben, doch dann habe ich es glücklicherweise auch alles schnell wieder beiseite gelegt und vergessen, weil es doch einfach viel zu dümmlich ist, um sich darüber noch weitergehende Gedanken zu machen.



Mit den besten Grüßen

Bernd Niquet



berndniquet@t-online.de

621Paul 13-06-2006 12:59

Jetzt wieder Buy-and-Hold
11:07 11.06.06





„Falls Sie genau wissen wollen, was aktuell passiert ist“, schrieb Jochen Steffens neulich im „Investor´s Daily“: „Das war eine bearishe Bullenfalle gefolgt von eine bullishen Bärenfalle. Ich erlaube mir nun, drei Gedankenstriche folgen zu lassen - - -.“



Ich erlaube mir, noch ein weiteres Zitat anzufügen. Es stammt vom Chefstrategen der Credit Suisse Deutschland und ist wirklich etwas zum Auf-der-Zunge-zergehen-Lassen: „Perspektivisch dürfte der seit Anfang 2003 andauernde Bullenmarkt für längere Zeit auslaufen.“



Ist das nicht wunderbar?! „Perspektivisch dürfte“, das heißt, es könnte auf längere Sicht, es könnte aber auch nicht und könnte doch, selbst kurzfristig, muss aber keineswegs, „der Bullenmarkt für längere Zeit auslaufen“, also der Bullenmarkt langfristig zu Ende sein, die Kurse aber nicht sinken, vielleicht doch, oder eben weiter steigend, aber eben doch auslaufend, das Kursniveau nicht abstürzend und auch nicht ausufernd, weder nach oben noch nach unten, sondern eben auslaufend. Die Formulierung „auslaufend“ sollte man sich merken, denn sie ist mitnichten ein Auslaufmodell. Früher sagte man noch, was man dachte. Heute hingegen sagt man „perspektivisch auslaufend“.



Ich kann es gut nachvollziehen, wie Jochen Steffens Traderkollegen zu schwitzen haben: „„Ich hör’ nun aber endgültig auf mit der Börse, ich habe keinen Bock mehr!“, so ein Kollege heute. Die Kommentare eines anderen in zeitlicher Reihenfolge: „Wir sichern uns jetzt ab, das reicht. Nein, wir sichern uns nicht ab. So, jetzt haben wir uns doch abgesichert – Schei...., hätten wir doch nicht!“....“



Ich halte es hier lieber mit dem „perspektivisch auslaufend“. Denn hier ist man immer auf der sicheren Seite. Wie hat der alte Kosto gesagt: Wenn man nicht weiß, dann verkauft man die Hälfte. Dann hat man immerhin zur Hälfte alles richtig gemacht. Und die anderen Hälfte hält man stoisch durch. Dann lebt man ganz ruhig, muss nicht dauernd hingucken und reibt sich nicht auf. So habe ich es auch 2000 bis 2003 gemacht – und ganz gut überlebt. Mal sehen, wie es dieses Mal wird. Schlimmer geht ja kaum.



Das bringt mich zu meinem neuen Buch, das Ende der Woche erscheint und über das ich zu gegebener Zeit noch etwas mehr dazu ausführen werde.



Mit den besten Grüßen

Bernd Niquet



berndniquet@t-online.de

621Paul 23-06-2006 12:20

Boersenerfolg: Ein Leidfaden!

von Dr. Bernd Niquet

Wer an den Boersen und Finanzmaerkten Erfolg haben will, muss
gegen den Strom schwimmen. Nur wer sich von der Masse deut-
lich abhebt, besitzt die Chance auf den grossen Erfolg. Doch
der Preis ist hoch, denn alles anders zu machen als alle an-
deren Leute, bedeutet nichts weniger als unsere vertraute
Welt zu verlassen: Keine Zeitung, kein Radio und kein Fernse-
hen mehr, die Freunde verlassen, ein Einsiedler werden, den
Sex vergessen und vor allem: alle Gefuehle dauerhaft und
restlos beseitigen!

Wollen Sie das? Nein, das wollen Sie ganz sicher nicht! Also
vergessen Sie am besten die Boerse und kuemmern Sie sich wie-
der um ihren ureigensten Beruf. Spielen Sie ein bisschen her-
um mit der Boerse, so wie man es frueher mit anderen Dingen
getan hat, doch nehmen Sie es nicht zu wichtig. Und setzen
Sie nicht zu viel Geld ein, denn Sie werden das meiste davon
verlieren.

Was? Sie wollen doch den konsequenten Weg gehen? Ich kann Sie
nur warnen! Doch wenn Sie sich wirklich nicht abbringen las-
sen wollen, dann darf ich Ihnen einen Reisefuehrer anbieten,
einen Leitfaden, der jedoch recht eigentlich eher ein Leidfa-
den ist. Er heisst "Die Romantik der Finanzmaerkte", ist ge-
rade an diesem Wochenende erschienen, und was das beides mit-
einander zu tun hat, die Romantik und die Finanzmaerkte, das
muessen Sie auch noch selbst herausfinden. Ich kann Sie also
nur warnen, gleich im doppelten Sinne - vor dem Weg und vor
der Beschreibung des Weges. Andererseits wohnen manchmal der
Humor und die Erkenntnis auch genau dort, wo man sie beide am
wenigsten vermutet.

Also Schluss mit der Ruehrseligkeit! Hoeren Sie auf, sich
ueber ihre Verluste oder verflossenen Gewinne zu beklagen.
Sie haben Ihr halbes Leben im Kofferraum verbracht. Es wird
Zeit, endlich heraus zu klettern. Alles faengt jetzt von vor-
ne an. Ihr Verstand ist wieder eine unbeschriebene Tafel.
Nehmen Sie noch einmal die Kreide in die Hand und machen Sie
es anders als beim letzten Mal. Die Masse hat tendenziell
immer Unrecht, sagt man an der Boerse. Also stellen Sie sich
dagegen. Und hoeren Sie endlich auf mit den Gefuehlen. Ge-
fuehle waren gestern. Heute regiert das Rationale.

Die Welt dreht sich um Total-Return-Konzepte, um rationale
Risikoermittlung, rationales Risikomanagement und das ratio-
nales Risikocontrolling. Und nicht darum, was Sie denken. Und
schon gar nicht, was Sie fuer Gefuehle haben. Die anderen
richten sich auch nicht nach ihren Gefuehlen. Wir Deutschen
muessen endlich wieder Weltniveau haben. Total-Return-
Konzepte, um rationale Risikoermittlung, rationales Risikoma-
nagement und das rationales Risikocontrolling, darum geht es.
Also: Entledigen Sie sich endlich Ihrer Gefuehle! Die Ent-
scheidung ist ueberfaellig. Reissen Sie sie heraus wie eine
faule Wurzel. Wer alles anders machen will als alle anderen,
kann keine Gefuehle mehr brauchen. Zerreissen Sie den schoe-
nen Schleier von Trunk und Unbeschwertheit. Genau an dieser
Stelle beginnt die Radikalitaet. Denn keine Revolution ohne
das Radikale. Jetzt muessen Sie schnell wieder nuechtern wer-
den.

Und kappen Sie alle Verbindungen. Wir leben im Zeitalter der
Vernetzung. Doch die Vernetzung hebt Sie auf keine hoehere
Stufe, sondern faengt sie ein wie einen Fisch. Daher: Entnet-
zen Sie sich! Das ist ihre einzige Chance. Seien Sie dankbar,
denn Sie haben wenigstens eine Chance. Ergreifen Sie sie!


++++++

Bernd Niquet ist Boersenkolumnist und Buchautor.

621Paul 09-07-2006 09:51

Die kleinen Moritze

von Dr. Bernd Niquet

Neulich war ich wieder einmal auf einem Seminar. Wie steht es
um die Welt und um die Weltfinanzen? Ein junger Mann ergreift
sein Notebook und bringt eine PowerPoint-Praesentation: Ja-
pans Waehrungsreserven haben sich zwischen Januar 2003 und
Maerz 2004 fast verdoppelt, Chinas Waehrungsreserven reichen
trotzdem schon beinahe daran, insgesamt liegen ueber 52 Pro-
zent der US-Staatsanleihen im Ausland, die US-Schulden betra-
gen ueber 300 % der Wirtschaftsleistung - kurzum, das kann
alles nicht mehr lange weiter gehen und ist zum Untergang
verurteilt.

Der junge Mann ist ein sehr junger Mann. Wenn es lange ist,
wird er vielleicht fuenf oder sechs Jahre sich aktiv mit der
Materie befasst haben. Er erzaehlt von der Zwangslage des US-
Notenbankpraesidenten, die aus obiger Situation resultiert.
"Egal was dieser machen wird", so der sehr junge Mann, "er
kann dabei nur scheitern." Erhoehe er die Zinsen weiter,
wuerge er die Wirtschaft ab und dadurch wuerden die Probleme
nur noch groesser werden. Damit stabilisiere man zwar den
Dollar, aber dann gehe die Wirtschaft in die Knie. Erhoehe
er die Zinsen jedoch nicht, dann gehe der Dollar in den Kel-
ler und reisse das gesamte System aus den Angeln. "Wenn man
mich fragen wuerde", schliesst er, "ob ich den Job von Ben
Bernanke machen wuerde, ich wuerde "nein" sagen!"

Der junge Man, der wirklich noch sehr jung ist, hat in den
fuenf oder sechs Jahren, die er sich jetzt mit der Materie
beschaeftigt, gelernt, das Weltfinanzsystem als eine Maschine
zu sehen, die vor ihm steht und die wie ein mechanisches Sys-
tem funktioniert. Dieses System kann man erkunden und weiss
dann, wie es funktioniert. Fuer diesen sehr jungen Mann ist
das Weltfinanzsystem eine kleine mechanische Maschine, deren
Funktionsweise er in Gaenze uebersieht und beurteilen kann.
Und da das Weltfinanzsystem nur eine kleine mechanische Ma-
schine ist, glaubt der noch sehr junge Mann, dass er spiegel-
bildlich dazu sehr gross sei, weil er eben vor dieser mecha-
nischen Maschine steht und sie und ihre Funktionsweise in
Gaenze ueberblicken und ihren Mechanismus mit apodiktischer
Richtigkeit erkennen und beurteilen kann.

Das wirkliche Problem unserer Gegenwart und Zukunft ist je-
doch: Die Welt wird ueberschwemmt von kleinen Moritzen, die
sich selbst nicht fuer kleine Moritze halten und folglich
erstaunt darueber sind, warum die anderen (kleinen Moritze)
das, was sie selbst sagen, nicht verstehen, nicht sehen,
nicht begreifen wollen, koennen oder duerfen - und daher auch
nicht die notwendigen Schluesse und Handlungen daraus ergrei-
fen wollen, koennen oder duerfen.

Die ganze Welt wird von kleinen Moritzen ueberschwemmt, die
glauben, die Dinge dieser Welt waeren kleine Maschinen, die
man in kleine Schachteln stecken und die man in Gaenze ueber-
blicken und verstehen koennte, weil sie ja allesamt nur nach
mechanischen Gesetzen funktionieren wuerden. Wobei allenfalls
das richtig ist, dass man die kleinen Moritze, die sich als
gross und die mechanischen Maschinen weit ueberblickend ver-
stehen, selbst als mechanische Maschinen begreifen kann, die
stets nach vorgegeben Gesetzmaessigkeiten funktionieren, was
allerdings nicht allzu viel heisst. Was einen aber auch vor
den groebsten Formen der Selbstueberschaetzung und den gigan-
tischsten Anfaengerfehlern bewahren sollte.

++++++

Bernd Niquet ist Boersenkolumnist und Buchautor.

621Paul 13-08-2006 12:19

Sie wollten es nicht einmal hören
 
von Dr. Bernd Niquet

Dies ist die Geschichte von einem Mann, der den Kosten unse-
res Gesundheitssystems etwas entgegen setzen wollte. Der sei-
nen kleinen, bescheidenen Beitrag leisten wollte. Der sich
nicht um die grossen Dinge kuemmern wollte (um dann letztlich
doch nichts zu bewirken), sondern der in seinem kleinen Be-
reich Verantwortung zeigen wollte (um dann wenigstens etwas
zu bewirken).

Unser Mann ist ein Privatpatient und damit gleich in dreifa-
cher Weise privilegiert, einmal, weil er eine bessere und
schnellere Behandlung bekommt, und zweitens wie drittens,
weil seine Kasse dafuer mehr Geld bezahlt und er ueberdies
die Abrechnungen der Aerzte einsehen kann. Unser Mann ver-
spuert schon seit langem Rueckenschmerzen, die nicht recht
weggehen wollen. Der Arzt schlaegt vor, es mit ein paar
Spritzen zu versuchen. Na ja, denkt unser Mann, man kann es
ja mal versuchen.

Zehn oder zwoelf Mal geht er zu diesem Arzt, wartete jeweils
eine halbe Stunde und bekommt dann in einer oder zwei Minuten
hier und da einen kleinen Pieks. Und fertig - bis zum naechs-
ten Mal. Als anschliessend eine Pause vereinbart wird, kommt
die Rechnung des Arztes. Sie belaeuft sich auf 1.600 Euro,
nach guter, alter Rechnung also etwa 250 DM pro Ein-Zwei-
Minuten-Sitzung.

So geht das doch nicht, denkt unser Mann und schreibt einen
Brief an seine Krankenkasse. Er schreibt, was der Arzt kon-
kret mit ihm gemacht hat und er bittet um Pruefung, dass so
etwas doch wohl nicht sein kann. Die Bedeutung dieses Briefes
ist also: "Kommt, lasst uns gemeinsam etwas machen, dass uns
beiden nicht das Fell ueber die Ohren gezogen wird."

Die Antwort seiner Krankenkasse erschreckt ihn. Sie besteht
in der kommentarlosen Ueberweisung des Betrages von 1.600
Euro auf sein Konto. Sie haben es also nicht einmal hoeren
wollen! "Nein!", haben Sie damit gesagt, "nein, wir wollen
nicht diskutieren oder verhandeln, wir wollen lieber zahlen!"

Wenig spaeter durfte unser Mann der entscheidenden ge-
schaeftspolitischen Vorstandssitzung seiner Privaten Kranken-
kasse beiwohnen. Hier ist sein Protokoll:

Der Vorstand-Vorsitzende: "Ich begruesse Sie zur Sitzung.
Herr Controlling-Vorstand, wie haben sich unsere Einnahmen
und Ausgaben entwickelt?"

Der Controlling-Vorstand: "Die Ausgaben sind stark gestiegen
und liegen jetzt um 20 Prozent ueber den Einnahmen plus Ge-
winnsumme."

Der Vorstand-Vorsitzende: "Gut, dann erhoehen wir unsere Ta-
rife fuer das naechste Jahr um 20 Prozent. Noch Fragen?"

Der Vertriebs-Vorstand: "Ja, und was machen wir dann im
naechsten Jahr?"

Der Vorstands-Vorsitzende: "Genau das Gleiche natuerlich. Ich
danke Ihnen, die Sitzung ist geschlossen."

Fuer das schwere und verantwortungsvolle Geschaeft der Lei-
tung einer Privaten Krankenkasse beziehen die Vorstaende
durchschnittlich bestimmt 300.000 Euro pro Jahr. In Hinsicht
auf die Gesetzlichen Krankenkassen tragen die Chefs der Kas-
senaerztlichen Vereinigungen fuer etwa das gleiche Salaer die
schwere Verantwortung. Und da wird man doch wohl wahrlich
einmal fuer 1.600 Euro (herum) spritzen duerfen, wird sich
der Arzt unseres Mannes gesagt haben.


++++++

Bernd Niquet ist Boersenkolumnist und Buchautor.

621Paul 01-10-2006 11:50

Geniale Strategie der Moderne

von Dr. Bernd Niquet

Meine Guete war das wieder eine Woche. Am Freitag versucht
die Telekom, das Telefon in der Wohnung unter mir anzu-
schliessen. Ob es geglueckt ist, weiss ich nicht. Doch seit-
dem ist meine Leitung tot. Was fuer ein Erfolg! Nun beginnt
wieder der Leidensweg durch die Callcenter. Da kann man etwas
erleben, das weiss jeder, der das schon einmal durchgemacht
hat, und das hat jeder schon einmal durchgemacht. Ich denke,
dass es durchaus einmal einen allgemeinen Blick wert ist,
denn hinter den Callcentern der grossen Unternehmen verbirgt
sich meines Erachtens nichts weniger als das gesamte Wesen
unserer heutigen Zeit.

In keinem Moment ist der moderne Mensch so ohnmaechtig und so
machtlos wie in dem Moment, in dem er mit einem Unternehmen
ueber ein Callcenter kommunizieren muss. Man kann reich sein,
kann maechtig sein, kann erfolgreich sein, Dinge blitzartig
begreifen, persoenlich ueberzeugend sein, Menschen fuer sich
einnehmen koennen, hyperintelligent sein - alle diese Eigen-
schaften nuetzen bei einem Callcenter nichts, aber auch gar
nichts. Hier wird jeder in die Norm gepresst. Der moderne
Mensch mit seiner ganzen Freiheit und seinen historisch voel-
lig einmaligen Moeglichkeiten - hier muss er von allem Ab-
stand nehmen. Hier ist er nur noch eine Nummer.

Es handelt sich um die voellige Entpersonalisierung der Kom-
munikation. Hier redet man nicht mehr mit einem Menschen,
sondern mit einer Maschine. Teilweise redet man wirklich fak-
tisch mit Maschinen, meistens jedoch mit auf Maschinenfunkti-
on reduzierte Menschen. Die schlimmen Zukunftsraeume von Or-
well und Huxley sind hier bereits Wirklichkeit geworden.

Am gravierendsten ist jedoch der Rueckstau der Gefuehle. Das
klingt erst einmal laecherlich, bietet aber meines Erachtens
sogar ein Verstaendnis selbst fuer die Politikverdrossenheit
der Gegenwart. Beim direkten Kontakt zwischen Menschen kann
man seinem Unmut Luft machen. Schmeckt das Essen in Restau-
rant nicht, kann man des dem Kellner sagen oder sogar den
Chef kommen lassen. Ist man mit dem, was die Autowerkstatt
gemacht hat, nicht zufrieden, hat man dennoch einen persoen-
lichen Ansprechpartner. Das wird zwar objektiv nicht viel
nuetzen, weil auch dieser keine Zugestaendnisse machen wird,
aber subjektiv schon, denn es ist ein menschlicher Kontakt,
so wie die Kontakte zwischen den Menschen seit Hunderttausen-
den von Jahren abgelaufen sind.

Heute hingegen kann man seinem Aerger keine Luft mehr ver-
schaffen. Was soll es, die nette Dame in der Stoerungsstelle
der Telekom anzubruellen? Sie kann doch nichts dafuer! Und
genau hier liegt der Schluessel zum Verstaendnis des allge-
meinen Prinzips. Denn Callcenter sind ja nur eine Auspraegung
der allgemeinen Entwicklung unseres modernen Lebens. Und die-
ses allgemeine Urteil lautet: Heute kann ueberhaupt niemand
mehr etwas dafuer! Niemand kann heute ueberhaupt noch etwas
fuer irgendetwas!

Fuer die Unternehmen ist das eine beinahe geniale Strategie,
den Kundenfrust abzuwimmeln. Natuerlich haette ein Unterneh-
men mit persoenlichen Ansprechpartnern ungeahnte Marktchan-
cen, doch die Gesetze des Marktes sprechen dagegen. Doch auch
bei der Politik ist es nicht anders: Wer traegt beispielswei-
se die Verantwortung dafuer, wenn die Gesundheitsreform jetzt
scheitert? Wem sollte der Buerger bei einem Scheitern das
Vertrauen entziehen? Diese Frage ist nicht zu beantworten.
Durch das Gewusel der Tintenfischarme dringt niemand mehr
durch. Wie bei einem Callcenter. Mit dem Effekt, dass die
Menschen sich ganz zurueckziehen. Wer nicht mit der Telekom
zu tun haben muesste, wuerde sich freiwillig der Bestrafung,
mit dieser zu kommunizieren, auch nicht aussetzen. Und das
ist der entscheidende Unterschied: Der Einzelne braucht das
Telefon zum sozialen Ueberleben. Die Gesellschaft als Ganzes
koennte hingegen darauf verzichten. Bei der Politik ist es
umgekehrt: Die Gesellschaft als Ganzes ist in ihrem Ueberle-
ben an die Politik gekoppelt. Der Einzelne hingegen kann die
Politik abwaehlen. Das jedoch heisst: Wir befinden uns in
hochgefaehrlichem Territorium.


++++++

Bernd Niquet ist Boersenkolumnist und Buchautor.

621Paul 21-01-2007 10:50

Demenzstation Deutschland

von Dr. Bernd Niquet

"Wo finde ich denn bitte die Station 4?" frage ich den
Pfoertner am Eingang.
"Das vierte Reich?" antwortet er mit einem Zwinkern in den
Augen, "diesen Weg dort, immer gerade aus. Dann kommen Sie
direkt zum Schwesternzimmer."
Im Tagesraum sitzt der Praesident der Industrie- und Handels-
kammer in einem Rollwagen, der eher an das Gefaehrt des Paps-
tes als an einen Rollstuhl erinnert. Mit ausladenden Gesten
redet er auf seinen Sohn ein, der neben ihm sitzt: "Ich sage
dir, wir muessen das Land weiter reformieren. Das habe ich
schon immer gesagt, und das werde ich auch weiter sagen."
"Ja Vater, es ist ja gut", beschwichtigt sein Sohn.

Der Praesident der Industrie- und Handelskammer faehrt mit
seinem Rollwagen einen halben Meter zurueck, dreht die Raeder
zur Seite und wirkt kurzzeitig irritiert. "Wo bin ich hier
eigentlich?" fragt er seinen Sohn.
"Du bist im Krankenhaus", luegt dieser ihn an.
"Ach so. Und was habe ich?"
"Nichts Schlimmes. Es ist nur dein Gedaechtnis. Und hier ver-
sucht man deine Medikamente noch etwas besser einzustellen."

"Mein Gedaechtnis ist sehr gut!" entgegnet der Praesident der
Industrie- und Handelskammer und fuegt mechanisch hinzu: "Ich
habe schon immer gesagt, dass wir mit den Reformen weiter
machen muessen. Ich habe das schon immer gesagt, und ich wer-
de es auch weiterhin sagen."
"Ich weiss Vater."
"Na bitte, dann sind wir doch klar, oder?"
"Ja Vater, es ist alles in Ordnung. Wir machen mit den Refor-
men weiter."

In diesem Moment betritt eine Schwester den Raum und wendet
sich an den Sohn des Praesidenten der Industrie- und Handels-
kammer: "Ist Ihr Vater eigentlich Selbstzahler?"
"Natuerlich nicht!" entruestet sich der Sohn.
"Gut", sagt sie, "dann muessen Sie diese Rechnung hier beim
Bezirksamt zur Begleichung einreichen." Und drueckt ihm einen
Umschlag in die Hand.

Der Praesident der Industrie- und Handelskammer hat den Blick
starr geradeaus gerichtet, wird ploetzlich jedoch neugierig.
"Was ist denn das?" fragt er und zeigt auf den Briefumschlag
in den Haenden seines Sohnes.
"Vater, das ist eine Rechnung. Aber das jetzt genau zu
erklaeren, ist sicherlich ein bisschen zu kompliziert. Er-
zaehl mir doch lieber, was es heute zum Mittag gab."

"Ich habe dir schon immer gesagt und werde es dir auch immer
weiter sagen, dass wir mit den Reformen weiter machen mues-
sen", erregt er sich, zeigt nervoes mit der Hand auf die
Rechnung und versucht, aus seinem Rollwagen aufzustehen.
"Ich weiss Vater", entgegnet sein Sohn sichtlich genervt.
"Wir machen ja weiter mit den Reformen. Schon morgen werde
ich die Rechnung beim Bezirksamt zur Begleichung einreichen."

Jetzt kommt eine weitere Schwester in den Raum. Sie haelt
einen winzigen Messbecher in der Hand, in dem sich ein
Schluck einer durchsichtigen Fluessigkeit befindet. "So,
jetzt trinken wir das fein aus", sagt sie und drueckt dem
Praesidenten der Industrie- und Handelskammer den Becher in
die Hand: "Jetzt trinken Sie nur Ihren Reformsaft aus und
danach wird ganz bestimmt alles gut."


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Bernd Niquet ist Boersenkolumnist und Buchautor.

OMI 31-01-2007 09:42

Die Schuld der US-Notenbank?


Von Bernd Niquet

Meine große Privatdiskussion auf der Internationalen Kapitalanleger-Tagung in Zürich in der vergangenen Woche: Darf man tatsächlich der US-Notenbank die Schuld für die Exzesse an den Finanzmärkten zuweisen?

Felix Zulauf berichtet von seinem vielfachen Zusammentreffen mit Alan Greenspan. „Greenspan hatte sehr große Angst vor eine Wiederholung der Deflation in den Dreißiger Jahren“, sagt Zulauf. „Er wusste alles darüber und hat versucht, alles zu tun, um eine Deflation zu verhindern.“

Ich denke, dass Greenspan richtig gehandelt hat. Und ich denke, dass die Probleme, mit denen wir gegenwärtig konfrontiert sind, nichts mit einem Fehlverhalten einer oder mehrerer Notenbanken zu tun haben. Wir leben in einer liberalisierten Geldwirtschaft – und das bedeutet: das Geld regiert die Welt. Doch gesteuert wird das Geld von den großen Vermögen. Sie setzen allen Marktteilnehmern aller Marktwirtschaften den Schwitzkasten an. Den Nationalstaaten, den Arbeitnehmern, den Unternehmen – und auch den Notenbanken. Und freie Märkte tendieren zu Konzentrationsprozessen und Massenverhalten. Das, was wir gegenwärtig erleben, ist damit ein völlig systemimmanentes Geschehen.

Folker Hellmeyer widerspricht mir vehement: „Die Fed hat die Marktmechanismen außer Kraft gesetzt“, sagt er. „Wenn den Finanzmarktteilnehmern die Einsicht verloren geht, dass man bei Fehlverhalten in Konkurs geht, können Märkte nicht funktionieren. Und die Fed hat mit dem „Greenspan Put“ eben genau das getan.“

Ich sehe das Argument, und ich glaube, dass Hellmeyer Recht hat. Und dennoch darf man die Weltwirtschaft nicht in die Talfahrt schicken, um Spekulanten zu bestrafen, denke ich. Greenspan hat deshalb Recht getan.

Ralf Flierl bringt den Vergleich mit der Kindererziehung: „Wenn man einem Kind nicht rechtzeitig „eine Watschen gibt“, dann lernt es nicht, seine Grenzen zu finden.“ Ich erkenne in diesem Plädoyer ein ganz anderes Bild: Die Greenspan-Gegner wollen, dass dann, wenn einzelne Kinder kokeln, zur Strafe das ganze Jugendzentrum abbrennt – mitsamt aller Insassen.

In der Pressekonferenz frage ich Marc Faber, wo denn nun genau Greenspans Fehler lag. Wo war es konkret falsch, gegenzusteuern? Nach 2000? Oder 1998 bei LTCM, Russland- und Asienkrise? Vielleicht gar bereits 1987?

„Tja“, sagt Faber, „so leicht lässt sich das nicht sagen. Deshalb hätte ich auch lieber einen internationalen Goldstandard, in dem das Geld an das Gold gebunden ist und nicht willkürlich von den Notenbanken gedruckt werden kann.“

Erleichtert lehne ich mich zurück. Was für ein Segen, dass sich trotz allgemeiner öffentlicher Verwirrung für die konkrete Geldpolitik immer wieder große Geister gefunden haben – und wir sie nicht den Laien überlassen mussten.


Anregungen oder Kritik bitte an Bernd Niquet.
[30.01.2007 13:41:40]

Quelle: instock

OMI 22-02-2007 16:01

Ende der alten Regeln


Von Bernd Niquet


Viele Leute wundern sich über den vehementen Anstieg und das enorme Niveau der Aktienkurse in unserem Land und auf der ganzen Welt. Dass es so etwas überhaupt innerhalb einer Generation noch einmal geben konnte. Nach diesem Crash vorher. In Deutschland hatten wir nur wenig vorher einen Abstieg erlebt, der extremer war als in den Jahren 1929 bis 1933. Doch es dauert nur wenige Jahre und wir stehen wieder am Top (wenn wir die Telekommunikation herausrechnen).

Alles sieht danach aus, als ob geschichtliche Regelmäßigkeiten keine Rolle mehr spielen. Die alten Regeln gelten nicht mehr. Allerdings nicht nur an der Börse, sondern überall. Und wer die Börse begreifen will, muss sie stets als in die generelle zeitliche Entwicklung eingeordnet begreifen. Im Juni 2000 habe ich dazu ein Buch mit dem Untertitel „Euphorie und Crash der Technologieaktien im Spiegel des Zeitgeistes“ veröffentlicht (1000 Prozent Gewinn – Euphorie und Crash der Technologieaktien im Spiegel des Zeitgeistes, FinanzBuch Verlag, München 2000). Langsam wird es Zeit für ein weiteres.

Ich mache es einmal mit dem Holzhammer: Was taten Gesellschaften historisch, um ihren Bestand zu sichern? Sie gingen sparsam mit Ressourcen um, waren sparsam, legten in guten Zeiten für schlechte zurück, hielten im Inneren eine stabile Ordnung, beseitigten Kriminelle und töteten ihre Feinde.

Und was machen wir heute? Wir tun in allen Punkten genau das Gegenteil! Und was ist das gemeinsame Moment aller dieser Punkte? Es ist die Zeit! Alle unsere Aktionen sind nicht mehr auf die Bewahrung eines stationären Gleichgewichts gerichtet, sondern auf eine Maximierung der Bedürfnisbefriedigung im Hier und Heute.

Völlig parallel dazu verläuft das Geschehen an den Finanzmärkten. Denn große Vermögen gab es schon immer. Doch wie setzte man früher die großen Vermögen ein? Sie ließen ihre Besitzer zu „Rentiers“ werden. Ein „Rentier“ ist jemand, der seinen Lebensunterhalt aus einer festen Rente erzielt, also aus einem garantierten Zinseinkommen. Das Vermögen wird wirtschaftlich eingesetzt und garantiert einen jährlichen Zins.

Heute hingegen ist aus dem immer wiederkehrenden Zinsstrom ein großes Spiel um die Bestandswerte geworden. Regelmäßige Zinseinkommen genügen niemandem mehr. Heute ist Dynamisierung erforderlich. Es reicht nicht mehr, einen Wechsel auf die Zukunft zu ziehen, der ein fixes Jahreseinkommen garantiert, heute muss der Wechsel selbst noch an Wert zulegen, sonst ist er uninteressant.

Wir legen also alles, was wir haben, auf den großen Spieltisch – und los geht das Spiel. Und da die überwiegende Mehrheit sich einig ist, dass es besser ist, reich als arm zu werden, bringt dieses Spiel – von wenigen temporären Unterbrechungen abgesehen – ganz wunderbare Früchte hervor. Es geht aufwärts und aufwärts in jedem Jahr. Wir steigen in die Lüfte. Wie die Schwefeldüfte. Und kein Ende in Sicht. Ist ja auch niemand drauf erpicht. Doch plötzlich ungeheuer, nein, es ist kein Feuer, sondern etwas völlig Neues.

Doch darauf reimt sich nichts.


Anregungen oder Kritik bitte an Bernd Niquet
Quelle: instock

621Paul 13-05-2007 09:26

Erstaunliche Geschehnisse

von Dr. Bernd Niquet

Der hoechste Mann unseres Landes trifft sich mit einem verur-
teilten Terroristen, der nicht gestaendig ist, um sich ein
Urteil ueber dessen Begnadigung zu bilden. Der oberste Mann
unseres Staates trifft sich mit einem Terroristen. Die Frau
ein paar Haeuser weiter hat sieben Kinder grossgezogen. Ihre
Rente ist jetzt spaerlich. Sie wird vom Bundespraesidenten
nicht besucht. Der Bundespraesident trifft sich jedoch offi-
ziell mit einem Terroristen. Was muss dieser Mensch fuer ein
verstuemmeltes Urteilsvermoegen haben, um so eine Entschei-
dung nicht aus sich selbst heraus zu treffen. Und welch ein
kolossaler Verfall der Sitten. Der hoechste Mann im Lande
trifft sich mit einem Terroristen.

Aber natuerlich: Er musste sich mit dem Terroristen treffen,
um denjenigen, die den Terroristen aus dem Gefaengnis haben
wollten, keine zusaetzliche Munition zu geben. Also auch der
oeffentliche Kompromiss ein zunehmender Verfall der Sitten.
Wer wird hofiert in unserem Lande? Die Krawallmacher und die-
jenigen, die Geld haben. Gerade geht es in die letzte Runde
der Abgeltungssteuer. Bald koennte sie beschlossene Sache
sein. Die Abgeltungssteuer bedeutet, dass Kapitalertraege,
egal wo und wie sie anfallen, nach einem pauschalen Abgel-
tungssatz von 25 % besteuert werden. Damit sind die letzten
Reste der Steuergerechtigkeit beseitigt. Die Politik hat sich
vor dem Kapital in den Staub geworfen. Der Praesident trifft
sich mit dem Terroristen, und der Politiker macht den Diener
vor dem grossen Geld.

Doch koennte der Bundespraesident sich durchaus anders ver-
halten, so kann die Politik das gar nicht. Die Globalisierung
mit ihren voellig liberalisierten Kapitalmaerkten und dem
total freien Kapitalverkehr zwingt sie dazu. Was fuer eine
geniale Idee der weltweiten Lobby der grossen Vermoegen, die
Nationalstaaten in eine Konkurrenzsituation zu zwingen, so
dass die Besteuerung der Finanzertraege immer geringer wird.
Wer heute in der Bundesrepublik arbeitet, muss fuer jeden
Euro, den er ueber 52.000 Euro verdient, 42 Prozent Einkom-
mensteuer bezahlen. Wer hingegen von seinen Kapitalertraegen
lebt, muss kuenftig nur noch 25 Prozent zahlen. Und wer ein
international agierendes Unternehmen besitzt, bekommt fast
schon Geld geschenkt dafuer.

Die einzige Kritik, die man an der Abgeltungssteuer hoert,
ist jedoch nicht, dass sie ungerecht sei, sondern ganz im
Gegenteil, dass der Steuersatz zu hoch waere. Es ist ja auch
wahr: Wer ein paar Millionen im Jahr verdient, fuer den macht
es schon einen Unterschied von mehreren Hunderttausenden, ob
die Abgeltungssteuer bei 25 Prozent oder nur bei 20 Prozent
liegt. Notfalls geht er eben nach Luxemburg oder nach Belgien
oder sonst wo hin, wenn man ihn nicht ausreichend hofiert.
Der Bundespraesident geht ja auch zu Terroristen. Warum soll
da der Vermoegende nicht nach Luxemburg gehen?

Aber wenigstens geht es hier um bewusste Entscheidungen. Die
wirklichen Verbrechen sehen anders aus. Junge Maedchen in
Koffer zu sperren und sie dann bei lebendigem Leib zu
verbrennen. Oder das, was der beruehmte Spekulant Jim Rogers
mit seiner Tochter macht. Sie ist vier Jahre alt und muss
bereits chinesisch sprechen. Um spaeter einmal bessere Chan-
cen zu haben. Fernsehen schauen wie andere Kinder darf sie
nicht. Nur chinesische DVD´s sind ihr erlaubt. Eine normale
Kindheit wird sie nicht haben. Eigene Entscheidungen darf sie
nicht treffen. Von anderen Kindern wird sie stets getrennt
sein. Selbst und gerade dann, wenn sie ihren Vater spaeter
einmal aus dem Weg geschafft hat.


++++++

OMI 20-06-2007 13:42

Crash, Notenbanken und Liquidität


Von Bernd Niquet

Die Situation an den Welt-Aktienmärkten ist wirklich nicht ohne Brisanz. Ich gebe zu, solchen Chart wie den des Dax vorher noch nie gesehen zu haben, nicht einmal im letzten Emerging-Market. Erst senkrecht bergauf, dann senkrecht bergab, dann wieder senkrecht bergauf. Und das, obwohl sich in der Weltpolitik und der Wirtschaft nur wenig getan hat. Da sage wirklich noch einer, Märkte wären rational. Märkte sind vielmehr genauso verrückt wie die Menschen.

Und hier liegt exakt das Problem. Denn die Menschen sind sich ihrer Verrücktheit nur selten bewusst - und versuchen vielmehr, stets neue rationale Begründung für das verrückte Geschehen heranzuziehen und zu erfinden. Zwei von ihnen möchte ich heute behandeln. Es sind zwei ganz wichtige, nämlich die beiden Begründungen, die stets dahingehend angeführt werden, dass ein möglicher Crash nicht gravierend wäre beziehungsweise gar nicht kommen könne.

"Angenommen, die Börsen fallen um 20 oder sogar nur um 10 Prozent, dann werden die Zentralbanken natürlich fleißig Geld drucken, um Liquidität zu schaffen, durch die dann die gefallenen Vermögenswerte wieder steigen werden", sagt beispielsweise Marc Faber. Und die andere - und damit sehr verwandte - Interpretation lautet, dass weiterhin viele Milliarden auf Anlage warten und daher den Märkten kaum Gefahr drohe.

An dieser Stelle muss man zwei Dinge klar auseinander halten und so kategorisch voneinander trennen, dass man niemals - und wirklich niemals - die beiden miteinander vermischt. Auf der einen Seite müssen wir die Einschätzungen der Anleger betrachten, also deren Erwartungen und deren Psychologie. Hier kann es tatsächlich sein, dass beide sich positiv darstellen und den Märkten aus diesem Grunde wenig Gefahr droht. Das ist möglich, doch hierüber kann man keine verlässliche Aussagen treffen, da Zukunftserwartungen und Psychologie sich weder objektiv ergründen noch quantifizieren können. Hierüber kann man folglich nur spekulieren.

Und auf der anderen Seite stehen die Dinge, über die man sehr wohl exakte quantitative und verlässliche Aussagen treffen kann - wie über die Notenbank, die Geldmenge und das liquide Vermögen - doch daraus kann und darf man keinerlei Folgerungen ziehen! Das ist der wichtigste Satz über die Börse überhaupt!

Warum ist das so? Natürlich können Notenbanken Aktienmärkte stabilisieren. Das haben wir schon oft gesehen, teilweise wissend und teilweise sicher auch unwissend. Doch das hat nichts mit umlaufendem oder geschaffenem Geld zu tun, sondern mit Marktteilnehmern, die Aktien aufnehmen und keiner Budgetrestriktion unterliegen, weil sie entweder selbst eine Notenbank sind oder aber von der Notenbank von möglichen Verlusten freigestellt werden. Wenn die Notenbank selbst kauft oder beispielsweise Goldman Sachs auffordert, zu kaufen, und verspricht, sie von Verlusten freizustellen, dann ist es dieser Akt und nicht die Schaffung des Geldes, welches die Kurse stabilisiert. Der Unterschied mag jetzt zwar marginal vorkommen, doch er ist entscheidend, denn er zieht dem zweiten Argument den Boden unter den Füßen weg.

Der Hinweis auf Geld, das Anlage sucht, ist ein sinnloser Hinweis und nichts anderes als irritierend für die rasende Masse. Nehmen wir einmal an, die reichsten Männer der Welt böten plötzlich für alle Aktien dieser Welt den doppelten Preis - und bekämen dafür alle Aktien. Dann hätten sich die Märkte verdoppelt, doch das Geld selbst hätte sich nicht um einen Euro oder einen Dollar verändert. Es wäre nur von den Konten der Käufer auf diejenigen der Verkäufer gewechselt. Die Menge anlagesuchenden Geldes wäre damit trotz verdoppelter Kurse genauso hoch wie vorher.

Erinnert sich jemand noch an die Jahre 2000 bis 2003? Der Dax-Crash dieser Jahre war schlimmer als der Crash der deutschen Aktien von 1929 bis 1933. Und trotzdem hat sich die Geldmenge und die damit die Menge "anlagesuchenden" Kapitals in dieser Zeit nicht vermindert, sondern erhöht. Es hat nur niemand davon gesprochen. Aber so ist es halt mit den Argumenten an der Börse, sie werden immer nur dann hervorgeholt, wenn sie passen. Das ist an der Börse nicht anders als im normalen Leben oder im Irrenhaus.


Anregungen oder Kritik bitte an Bernd Niquet
Quelle: instock

621Paul 22-07-2007 13:32

Die Verbitterung ueber unseren Staat
 
von Dr. Bernd Niquet

Auch an diesem Morgen hat die Mutter ihre Kinder in die Schu-
le gebracht. Im Park neben der Schule sind die Drogenhaendler
bereits wach. Zwei Polizisten kommen vorbei, und es ergibt
sich ein kurzes Gespraech. Schon ueber zwanzig Mal haben die
Polizisten die Drogenhaendler – teilweise unter Gefaehrdung
der eigenen Person und der eigenen Gesundheit – festgenommen.
Doch exakt genauso oft, naemlich ueber zwanzig Mal, sind sie
von der Justiz anschliessend sofort wieder auf freien Fuss
gesetzt worden. Die Verbitterung und Verzweiflung ist
verstaendlicherweise gross. Irgendetwas hat sich veraendert.
Frueher war das nicht so.

Anschliessend faehrt die Frau ihren Vater im Pflegeheim besu-
chen. Alle zwei Tage geht sie dort vorbei, denn ihr Vater hat
Alzheimer und niemand weiss, wie lange er sie noch erkennt.
Der Pfoertner wartet bereits und drueckt ihr einen dicken
Briefumschlag mit Arztrechnungen in die Hand. So ist das je-
des Mal. Fuer jede Stunde, die die Frau bei ihrem Vater ist,
muss sie in etwa die gleiche Zeit aufwenden, um den Papier-
krieg mit den Aerzten und der Krankenkasse abzuwickeln. Ir-
gendetwas hat sich veraendert. Frueher war das nicht so.

Vor kurzem ist entschieden worden, dass die Frau zur gesetz-
lichen Betreuerin ihres Vaters ernannt wird. Damit darf sie
seine Rechte gegenueber Aerzten, Krankenhaeusern, dem Pflege-
heim und den Behoerden vertreten. Wirksam wird das allerdings
nur, wenn sie dem Gericht eine lueckenlose Vermoegensaufstel-
lung ihres Vaters vorlegt. Das bedeutet, von drei Banken und
zwei Fondsgesellschaften auf den Stichtag terminierte Be-
scheinigungen anzufordern, die Kosten zu tragen, sowie andere
Wertgegenstaende aufzulisten und notariell beglaubigen zu
lassen. Auch hierfuer sind die Kosten zu tragen. Doch was
geht das Gericht das eigentlich an? Irgendetwas hat sich ver-
aendert. Frueher war das nicht so.

Die Frau weigert sich, diesen Dingen nachzukommen. Dem Rich-
ter gegenueber gibt sie an, sich persoenlich dafuer zu ver-
buergen, dass ihre Angaben korrekt sind. Aber sie will keinen
Notar und keine kostenpflichtigen Vermoegensaufstellungen.
Der Richter erklaert daraufhin schriftlich, dass in diesem
Falle das Gericht einen anderen Betreuer bestellen wuerde, um
sich um die Vermoegensfragen ihres Vaters zu kuemmern. Ir-
gendetwas hat sich veraendert. Frueher war das nicht so. Die
Drogenhaendler werden freigelassen, und am normalen Buerger
wird der Kontrollzwang ausgelebt.

Als die Frau nach Hause kommt, ruft sie beim Finanzamt an.
Den letzten Einkommensteuerbescheid hatte sie nur kurz durch-
geschaut und dann weggelegt, weil es wichtiger war, sich um
ihren Vater zu kuemmern. Jetzt hat sie gesehen, dass ihre
Werbungsausgaben nicht anerkannt worden sind, obwohl sie sie
korrekt angegeben hat. Leider jedoch sei der Termin fuer ei-
nen Einspruch bereits vergangen, sagt die Dame aus dem Fi-
nanzamt. Ja, sagt unsere Frau, aber sie wolle ja jetzt nicht
nachtraeglich etwas einreichen, sondern das, worum es gehe,
stehe ja von Anfang an klar auf dem Papier. Trotzdem, beharrt
die Finanzbeamtin. Resigniert beendet unsere Frau das Telefo-
nat. Natuerlich muss es Fristen geben, aber ist das nicht
irgendwie Betrug? Das Finanzamt hat einen Fehler gemacht,
doch es muss diesen Fehler nicht korrigieren, weil der Buer-
ger es erst spaeter als einen Monat gemerkt hat?

Irgendetwas hat sich veraendert. Frueher war das nicht so.
Und unsere Frau spuert ein Gefuehl, das vielleicht ungerecht
ist, aber es ist ein vehement starkes Gefuehl, dass es sich
kaum noch unterdruecken laesst: Wenn schon sie selbst, der es
doch eigentlich rundherum sehr gut geht, so einen Hass auf
diesen Staat hat, was soll dann eigentlich mit all den ande-
ren sein, die hier leben und denen es nicht so gut geht wie
ihr selbst?

++++++

Bernd Niquet ist Boersenkolumnist und Buchautor.

621Paul 08-06-2008 15:00

Gefühlte Wirtschaftsdaten
 
von Dr. Bernd Niquet

Was für ein Wetter ist das im Moment. Der Westen versinkt im
Gewitterregen, während es sich bei uns im Osten anfühlt wie
in der Sahara. Die Hitze staut sich wie im Hochsommer, und
der Rasen wird zur staubigen Steppe. ?So viel wie in diesem
Jahr habe ich in meinem ganzen Berufsleben noch nicht gegossen?,
sagt der alte Friedhofsgärtner. Und man nimmt ihm das durch-
aus ab.

Jetzt ein kühles Bier. Unter 3,50 Euro ist der halbe Liter
allerdings heute an guten Orten nicht mehr zu bekommen. Drei-
fuffzig, das klingt jedoch nicht viel. Doch das sind sieben
Mark. Und die Pizza dazu kostet einen Zehner. Das sind zwanzig
Mark. Hätten wir heute noch die D-Mark, würde sich niemand
trauen, diese Preise zu nehmen, da bin ich ganz sicher.
Sieben Mark für ein Bier, so viel kostete es nicht mal im
Kempi oder im Edel-Puff. Doch mittlerweile ist ja die ganze
Republik so geworden.

Die gefühlten Preise sind also nicht hoch ? und trotzdem sind
die Leute Pleite wie noch nie zuvor seit dem Krieg. Die Preise
fühlen sich niedrig an, weil die Menschen in ihrem Bezugssystem
weiterhin auf DM-Preise geeicht sind, doch in Wirklichkeit sind
sie so hoch, dass sie die Menschen in großer Zahl in den Ab-
grund treiben.

Das Phänomen des Unterschieds zwischen den objektiven Daten und
der subjektiven Wahrnehmung, also den gefühlten Werten, ist ein
weithin bekanntes Thema. Doch normalerweise läuft es anders
herum. Da kommt es zu einer Überschätzung und nicht zu einer
Unterschätzung, wie beispielsweise beim Wetter, wenn es sich
durch Wind wesentlich kälter anfühlt als es eigentlich ist. Auch
sei das so bei der Inflation, sagen die Statistiker. Die gefühlte
Inflation liege über der wirklichen. Doch jeder Mensch, der
noch recht bei Verstand ist, weiß, dass das nicht stimmt.

Andere gefühlte Zahlen habe ich in dieser Woche so mitbekommen,
frisch zur bald anbrechenden Reisezeit: 42 Prozent der Deutschen
fühlen sich im Auto am sichersten von allen Verkehrsmitteln. Nur
knapp 25 Prozent haben dieses Gefühl in der Bahn und gerade einmal
16 Prozent im Flugzeug. Die objektiven Zahlen hingegen lauten:
Europaweit starben im Jahr 2005 bei Bahnunfällen 62 Menschen, bei
Flugzeugunfällen 135, im Auto jedoch 5.361. Und selbst für den
Kilometer zurückgelegte Wegstrecke verändern sich die Zahlen kaum:
Je Milliarde zurückgelegter Personenkilometer starben 2005 im
Schnitt 0,2 Bahnpassagiere, 0,4 Fluggäste, aber immerhin
6 Autoinsassen.

Auch in diesem Bereich scheint sich also der Mensch, der recht bei
Verstand ist, in der Minderheit zu befinden. Kann man daraus viel-
leicht sogar ein allgemeines Gesetz ableiten? So, wie an der Börse,
in der ja auch die Mehrheit stets falsch zu liegen scheint? Darüber
sollte man einmal nachdenken, abends, wenn es im Biergarten etwas
kühler wird. Bei einem schönen Halben für dreifuffzig. Denn ob
man nun ein Bier für 3,50 oder ein Mineralwasser für 3 Euro trinkt,
man zumindest finanziell auch keinen Unterschied mehr. Auf jeden Fall:
Schöne Wochenendgrüße in die Regengebiete sollte man keinesfalls
vergessen.

621Paul 07-09-2008 16:34

Sind Maerkte tatsaechlich irrational?

von Dr. Bernd Niquet

Neulich schrieb mir ein Leser, die Kurse an den Maerkten be-
faenden sich derzeit auf einem laecherlichen Niveau. Darauf-
hin fragte ich zurueck, was er denn konkret damit meine,
laecherlich hoch oder laecherlich niedrig?

Als Antwort bekam ich die folgende Liste: Standardaktien USA:
grotesk hoch, Standardaktien EUR: zu hoch, Rohstoffaktien:
deutlich unterbewertet, Edelmetalle: viel zu niedrig, Leit-
zinsen USA: zu niedrig, Leitzinsen EUR: zu hoch, Langfrist-
zinsen weltweit: grotesk zu niedrig, USD: grotesk ueberbewer-
tet.

Das ist wie ein Blick in ein Gehirn, denke ich. Auch ohne
diesen Menschen naeher zu denken, kann ich jetzt genau sagen,
wie er denkt, woran er glaubt und was er befuerchtet. Doch
mir geht noch etwas anderes dabei im Kopf herum: Anscheinend
glauben wir heute alle, klueger als der Markt zu sein.

Nach der Effizienzmarkttheorie bringt der Markt stets die
vorhandenen Informationen in bestmoeglicher Weise hervor, und
niemand kann prinzipiell klueger als der Markt sein. Darueber
mag man anlaesslich vielfach zu beobachtender Marktkapriolen
schmunzeln und daran mag man auch zweifeln. Doch niemand
sollte vergessen, dass hier die Wurzeln unserer gesamten
Wirtschaftsverfassung und Demokratie liegen! Ziel jeder frei-
en Wirtschaftsverfassung ist es naemlich, die dezentral ver-
streuten Informationen sich in optimaler Weise ueber einen
Abstimmungsprozess (=Markt) buendeln zu lassen.

Dahinter steht der Glaube, dass das Ergebnis dieses Prozesses
jeder Einzelmeinung ueberlegen ist. Doch was fuer ein merk-
wuerdiger Befund, dass wir das zwar so entschieden haben und
dies auch immer wieder vertreten, es jedoch anscheinend
selbst nicht glauben. Weil wir uns ueberlegen fuehlen. Und
ich schliesse mich keinesfalls aus, schliesslich gehe auch
stets davon aus, dass viele Dinge entweder ueber- oder unter-
bewertet sind - und es von daher lukrativ ist, sie zu kaufen
oder zu verkaufen.

Doch ist es eigentlich legitim, das zu tun? Je laenger ich
darueber nachdenke, desto ehe tendiere ich dazu, diese Frage
zu verneinen. Natuerlich koennen wir stets versuchen, die
Wahrnehmung der Millionen von Haendler und Marktteilnehmer zu
hinterfragen, die sie dazu treiben, die Kurse so festzuset-
zen, wie sie sie gerade festsetzen. Doch erinnert das nicht
eher an den Witz vom Insassen in der Psychiatrie, der sich
selbst fuer den Pfleger und den Pfleger fuer den Insassen
haelt?

Kann es nicht vielleicht wirklich sein, dass der Verlauf der
Maerkte in der gegenwaertigen Finanzkrise gar noch so irrati-
onal ist. Zuerst hat man nicht an die Groessenordnung der
Kalamitaeten geglaubt. Menschen sind jedoch so. Natuerlich
waren einige schlauer. Doch was ist eigentlich mit denjeni-
gen, die in den Jahren 2000 bis 2003 dem Dax den groessten
Verlust in seiner Geschichte beschwert haben, einen Verlust,
der sich groesser zeigte als sogar derjenige in den Schick-
salsjahren von 1929 bis 1933? Da waren anscheinend auch viele
vermeintlich "schlauer". Doch deren Schlauheit hat sich im
Endeffekt als Dummheit heraus gestellt.

Maerkte bilden also - im Unterschied zur konventionellen
Weisheit - niemals die Faktenlage ab, sondern stets und immer
den Glauben von Menschen. Und wenn Menschen an Untergang
glauben, dann ist Untergang. Das ist rational. Ich akzeptiere
daher den heftigen Kursrutsch zum Ende dieser Woche. Die Men-
schen glauben jetzt an Schlimmeres. Und ich akzeptiere diese
Weisheit.

Doch ob es sich nun um eine Ueber- oder Unterbewertung han-
delt, darueber akzeptiere ich, keine Aussage machen zu koen-
nen. Denn dazu muesste ich ja glauben, dass der Markt die
Fakten abbildet, was jedoch nicht der Fall ist. Das Einzige,
was ich also gegenwaertig recht sicher weiss, ist, dass Men-
schen gemeinhin recht schnell wieder die Lust am Untergang
verlieren. Und dass man wirtschaftliche Untergaenge an den
Finanzmaerkten zwar antizipieren, aber niemals direkt herbei
fuehren kann.

621Paul 21-09-2008 17:54

Teufelskerle
 
von Dr. Bernd Niquet

Die abgelaufene Woche hat es wirklich in sich gehabt. Und sie
ist noch nicht ganz zu Ende als ich diese Kolumne schreibe.
Viele neue Risiken sind aufgetreten, aber wohl auch viele
Chancen, denn kein deutscher Anleger darf vergessen, dass es
nur noch in diesem Jahr moeglich ist, sich fuer die eigene
Alterssicherung ein auf Lebenszeit steuerfreies Portfolio
zusammen zu stellen. Ich selbst habe einiges gekauft und
darueber hinaus die Marktturbulenzen zum Anlass genommen,
meine Satellitenprogramme im Fernseher neu einzustellen, wo-
mit ich ab sofort auch wieder CNBC sehen kann.

Und ich muss sagen: Diese Amis sind wirklich Teufelskerle.
Das merkt man erst, wenn man lange mit ihnen keinen Kontakt
gehabt hat - so wie ich. Und wenn man deshalb voellig auf die
europaeischen Eiertaenze geeicht ist. Und wie muss es erst
sein, denke ich, wenn man aus den totalitaeren Gesellschaften
des Ostens kommt. Denn mit welcher Offenheit diese Marktge-
sellschaft ihre Situation und Probleme kommuniziert, ist
wirklich einmalig. Hier regiert die Pluralitaet der Meinun-
gen, im Markt, aber auch in den Gespraechen ueber den Markt.
Hier kann jeder sagen und machen, was er fuer richtig haelt.
Und deswegen haben die meisten auch eine erstaunliche Kompe-
tenz.

Bei uns wird ja gegenwaertig ueberall die These vom Untergang
der US-Fuehrungsmacht herum gereicht. Doch das ist weit ge-
fehlt! Trotz der heftigen Krise, die die USA gegenwaertig
erleiden. Jedenfalls werden die geschlossenen Gesellschaften
Chinas, des sonstigen Ostens oder auch Europas kaum eine
Chance haben, diesem Fuehrungsmodell etwas entgegen zu set-
zen. Da bin ich sehr sicher.

Und dann auch noch dieser eklatante Unterschied im oekonomi-
schen Wissen. Machen Sie einmal den Test: Schauen Sie die
Tagesschau und ntv, lesen Sie "Der Spiegel" und "Die Welt" -
und dann schalten Sie auf CNBC. Der Unterschied macht nicht
nur Welten aus, es ist regelrecht ein Universum, was uns hier
trennt. Ich denke, in ganz Europa gibt es nicht mehr Oekono-
mieverstaendige als alleine im Umkreis von CNBC existieren.
Leider jedoch arbeitet bei uns niemand davon im Bereich der
Medien.

Wenn hierzulande beispielsweise immer zu lesen ist, dass die
Zentralbanken "Geld in das System pumpen", dann ist das eine
Kindervorstellung und trifft den Sachverhalt keineswegs.
Ueberall diese Vorstellung von Pumpen, als ob wir alle noch
Vorschueler waeren. Bei CNBC hingegen redet man ganz normal
von "the Fed is expanding their balance sheets". Das ist kor-
rekt. Die Fed verlaengert ihre Bilanz. Sie nimmt temporaer
illiquide Papiere in ihr Portfolio und gibt dafuer Geld. Und
genau das ist ihre Aufgabe. Doch mit Pumpen hat das gar
nichts zu tun.

Die entscheidende Differenzierung muss zudem gemacht werden
zwischen Ueberschuldungs- und Liquiditaetsproblemen. Sind die
angeschlagenen Banken ueberschuldet oder haben sie "nur" ein
Liquiditaetsproblem? Das ist die entscheidende Frage. Doch
einem deutschen Wirtschaftsjournalisten diesen Unterschied
klar machen zu wollen, ist sicherlich vergeblich. Er hat sei-
ne Pumpen im Kopf und dabei wird es bleiben.

Was fuer Teufelskerle dagegen diese Amis sind. Mitten in der
Krise wird ploetzlich vom Prinzip abgegangen, die angeschla-
genen Multis zu retten. Und dann versagt die Fed auch noch
die Zinssenkung. Das ist todesmutig und gleichzeitig weise.
Denn die Fed stellt sicher, jeglicher Illiquiditaet stets
entgegen zu wirken, aber keine Zinssubventionen zu gewaehren.
Doch das versteht man hierzulande natuerlich nicht.

Wer also wirklich etwas begreifen und weiterkommen will, muss
auch weiterhin nach Amerika. Zum Glueck reicht dafuer heutzu-
tage in vielen Faellen eine intakte Satellitenschuessel.

621Paul 26-10-2008 18:51

Wer ist Schuld an der Krise?
 
von Dr. Bernd Niquet

Hat man nicht seit Ewigkeiten immer auf die Politik ge-
schimpft? Dass sie nichts zuwege bringt? In Normalzeiten ist
das sicherlich wirklich oft der Fall. Doch jetzt, in den ex-
tremen Zeiten der Finanzkrise, hat die Politik wirklich her-
vorragend reagiert. Ich bin erneut an die Zeit nach dem Mau-
erfall erinnert. Auch damals gelang es, die Herausforderung
der Geschichte in einzigartiger Weise zu bewaeltigen.

Entsetzlich finde ich nur die Medien, nicht die Politik. Die
Politik glaenzt, doch die Medien suhlen sich im Dreck. Hier
sehnt man den Tumult in der Welt stets von Neuem herbei.
Koennte man den Untergang herbeischreiben, wuerde man es so-
fort tun. Alle Schlagzeilen sind heute tendenzioes. Die Mana-
ger sind Verbrecher, die Wirtschaft wird abstuerzen und die
Aktien werden auf null sinken.

Aber wer hat nun wirklich die Krise herbei gefuehrt? Die Ban-
ken haetten in unverantwortlicher Weise Kredite vergeben an
Menschen, die eigentlich gar nicht kreditwuerdig waren, erre-
gen sich jetzt alle diejenigen, die vorher die Banken stets
fuer das Gegenteil kritisiert haben, naemlich aufgrund re-
striktiver Kreditvergabe die Wirtschaft zu behindern.

Und dann diese Risikopapiere. Da spulen sich in den Internet-
foren gruene Jungs auf, die einen intensiveren Derivatehandel
als Geschlechtsverkehr absolvieren, was die Banken hier alles
emittiert haetten. Doch waere das denn alles gegangen, wenn
die Nachfrage (gerade von ihnen selbst) nicht so immens gross
gewesen waere?

Die fuer mich umfassendste und beste Erklaerung finde ich in
dem, was ich vom Deutschen Soziologenkongress lese, der die-
ser Tage in Jena stattgefunden hat: Nicht unersaettliche
Manager waren die Hauptverantwortlichen der Krise, heisst es
da, sondern es ist eine Krise der Mittelschicht. Und das
gleich auf vielen verschiedenen Ebenen:

Die Ueberhitzung des US-Immobilienmarktes sei keinesfalls das
Resultat einer fatalen Politik des billigen Geldes oder der
angelsaechsischen Eigenheimideologie. Vielmehr haette die US-
Mittelschicht kaum anders gekonnt als sich fuer Haeuser in
guten Gegenden zu ueberschulden. Denn nur in jenen Gegenden
seien die Schulen so, dass auch die Kinder dieser Leute noch
die Chancen auf ein Leben nach Art ihrer Eltern haben. Und
weil der oeffentliche Sektor in den USA fuer die Weitergabe
des Mittelschichtstatus wenig leistet, mussten die Leute es
auf eigene Faust auf den Immobilien- und somit Kreditmaerkten
versuchen.

Und hier wird das Bindeglied zu einer weiteren Ebene deut-
lich, denn was der Staat hier nicht hergab, das mussten eben
die Finanzmaerkte hergeben. Was sie im Endeffekt jedoch eben-
so wenig getan haben.

Und bei uns ist das ja auch nicht anders. Die umlagenfinan-
zierte Rente, so hat man immer wieder gesagt, sei eine Fehl-
konzeption. Und hat ganz auf das Ansparmodell und die Kapi-
talbildung gesetzt. Hat die Menschen kalt in voellig ueber-
hoehte Renditevorstellungen entlassen. Ploetzlich sollte die
Eigenvorsorge alles sein. Jeder Eigenvorsorger war damit auf
einmal ein kleiner Koenig, der den Maerkten seine Renditevor-
stellung in der gleichen Weise vorgab, wie Josef Ackermann es
bei seinem Unternehmen tat.

Und jetzt muss der Staat sie alle wieder heraushauen. Der
ungeliebte und gehasste Staat muss es jetzt machen. Ein
Glueck, dass wir ihn haben. Und wir sollten alle gemeinsam
auf die Knie fallen und dem Himmel danken, wie gut unsere
Demokratie in Krisenzeiten funktioniert. Denn wenn die Fi-
nanzkrise etwas lehrt, dann das.


++++++

Bernd Niquet ist Boersenkolumnist und Buchautor.

+++ BRANDAKTUELL +++

+++ DAS NEUE BUCH IST DA +++

Bernd Niquet, Der MADchester-Kapitalismus.
Das Buch zur Krise, 143 Seiten, Volk Verlag, Muenchen 2008,
12 Euro. ISBN 978-3-937200-49-1. Hier bestellen:

http://click.be3a.com/click_de.html?...103.2.0634923.

621Paul 03-11-2008 15:41

12:03 03.11.08


Noch mehr schockiert als über die Finanzkrise bin ich über das, was über die Finanzkrise so alles gesagt und geschrieben wird. Und vor allem über das, was nicht gesagt und nicht geschrieben wird.



Warum beispielsweise lese ich nirgendwo das Wort „Liquiditätsfalle“? In der Japan-Krise hat noch jeder pubertierende Ökonom darüber lamentiert. Doch da gab es so etwas gar nicht. Denn die Liquidität wurde schließlich nicht von den Japanern gehalten, sondern im Wege der Carrytrades in den Rest der Welt exportiert.



Jetzt jedoch haben wir eine klassische Liquiditätsfalle. Die Geldmengen in den westlichen Industrieländern explodieren regelrecht. Man schaue nur auf die Geldbasis in den USA, die sich binnen weniger Monate schlichtweg verdoppelt (!) hat. Doch parallel dazu müssen Nationalstaaten wie Österreich und Spanien die Auktionen ihrer Staatsanleihen absagen, weil keine Nachfrage da ist.



Daher jedoch von der Möglichkeit von Staatspleiten zu reden, ist unverantwortlich und unsäglich dumm. Die Anleihen der großen Staaten stehen so hoch – und die Renditen sind spiegelbildlich so niedrig – wie beinahe noch nie in der Geschichte. Da ist nichts von einem Vertrauensverlust, ganz im Gegenteil. Denn warum sind die „Spreads“ der Anleihen der Industrie und der Finanzinstitute so hoch? Genau, auch deswegen, weil die Renditen der Staatsbonds so niedrig stehen.



Wir befinden uns in der klassischen Liquiditätsfalle. Niemals in der Neuzeit war sie so exemplarisch zu besichtigen. Die Geldmengen werden extrem ausgedehnt, doch das Geld wird nicht an den Märkten angelegt, sondern gehalten. Keynes hat die Liquiditätsfall bereits 1936 in seiner „General Theory“ ausführlich thematisiert. Im Vergleich zu den Dreißiger Jahren sind wir jedoch in einer ungleich besseren Situation. Denn damals gelang es nicht, die allgemeinen Zinssätze zu senken, so dass die Wirtschaft ins Trudeln kam. Heute hingegen befinden sich die Zinsen fast auf einem Allzeittief.



Jeder Vergleich der gegenwärtigen Krise mit der Weltwirtschaftskrise der Dreißiger Jahre ist daher ebenso dumm und dreist wie das Gerede von den Staatspleiten. Mögen diejenigen, die das machen, doch nur einmal ein einziges Buch über die damalige Zeit zur Hand nehmen. Dann würden sie sehen, dass sich damals der Welthandel von 1929 bis 1933 mehr als gedrittelt (!) hat. Heute reden wir um Rückgänge der Zuwachsraten (!) von zwei Dritteln – und damals wurde tatsächlich um zwei Drittel geschrumpft. (Das wäre heute unvorstellbar. Dann müsste, um die Proportion zu den bisherigen Entwicklungen zu halten, der Dax auf etwa minus 50.000 Punkte fallen.)



Das möge sich also tatsächlich jeder einmal selbst ausmalen, ein Schrumpfen um zwei Drittel! Doch so etwas passiert natürlich nicht. Dafür schreiben dann Journalisten selbst renommierter Zeitungen und Magazine, wenn sie hören, dass irgendein chinesischer Importeur einem Reeder mitteilt, ein Schiff könne bereits auf hoher See umkehren, weil er die Waren nicht abnehmen würde, von derartigen Vergleichen.



Die Menschheit ist wirklich ein Wunder. Man kann immer nur von Neuem staunen, dass wir mit diesem ungenügenden Material überhaupt so weit gekommen sind.





Mit den besten Grüßen!



Bernd Niquet





berndniquet@t-online.de

621Paul 09-11-2008 18:06

Eine kurze persoenliche Zwischenbilanz der Krise

von Dr. Bernd Niquet

Die Krise hat heftig zugeschlagen, auch bei mir. Immerhin
nicht ganz so schlimm wie die vergangenen Krisen, denn ich
bin schon vorgewarnt in sie hinein gegangen. Und jetzt sitze
ich vor meinem Portfolio und sinniere darueber, was ich rich-
tig und was ich falsch gemacht habe.

Im Februar 2007 habe ich zum ersten Mal in meinem Leben fast
alle Aktien verkauft und nur noch ein paar Rohstoffaktien und
Rohstoffzertifikate gehalten. Daneben Cash und Anleihen von
Schuldnern bester Qualitaet, Nationalstaaten und oeffentli-
chen Banken. Weil ich eine Krise erwartet habe. Da stand der
Dax bei 7.000 Punkten. Anschliessend musste ich erleben, dass
meine Aengste vor einer grossen Krise anscheinend unbegruen-
det waren. Und musste mit ansehen, wie der Markt neue histo-
rische Hoechststaende erreichte und ich nicht dabei war.

Ab Mitte 2008 habe ich dann angefangen, Aktienpositionen auf-
zubauen. Die Krise wird nicht mehr kommen, dachte ich. Und
wenn Sie mein neues MADchester-Buch gelesen haben, wissen Sie
ja auch, dass ich die wirkliche Krise erst fuer die Jahre
nach 2010/2011 erwarte. (Daran hat sich im Uebrigen auch
durch die jetzigen Kalamitaeten nichts geaendert.) Und dann
sind da natuerlich die steuerlichen Aenderungen, die ein
Engagement in 2008 unbedingt erforderlich machen. Insgeheim
habe ich sogar auf einen Crash im Herbst gehofft, um mich
dann richtig fett einzudecken. Denn das, was ich in 2008 kau-
fe, gebe ich sowieso erst in fuenfzehn oder zwanzig Jahren
wieder heraus, um mein Alter zu finanzieren.

Natuerlich war ich etwas frueh, doch bei jedem Rutsch habe
ich nachgekauft. Bei jedem! Erneut 10 % Kursverlust im Dax an
einem Tag? Wunderbar, bei derartigen Sonderangeboten greife
ich zu! Und das Ergebnis sieht gar nicht schlecht aus, finde
ich. Wenn man weit in die Ferne schaut, kann man also auch
ruhig ein fallendes Messer fangen. Faengt man es naemlich
nicht, mag es sein, dass man anschliessend mit leeren Haenden
da steht. Per letztem Wochenende, als der Dax bei 5.000 Punk-
ten lag, besteht bei mir ein Minus von 16 % auf die in 2008
gekauften Aktien. Das geht. Herunter gerissen hat mich, dass
ich sehr frueh angefangen habe, Banken zu kaufen. Gut hinge-
gen war, dass ich auch am absoluten Low gekauft habe und mit
Eon und BASF bereits ueber 30 % im Plus liege.

Was mir meine Gesamtperformance verhagelt hat, sind die Roh-
stoffaktien, die ich durchgehalten habe und auch durchhalten
werde. Schlechteste Aktie ist Anglo American, die von 42 Euro
zu Jahresbeginn auf 19 Euro gefallen ist. Da ich sie jedoch
bereits im Jahr 1991 zu 3,80 Euro gekauft habe, bringt mich
das nicht um. Groesste prozentuale Verlustposition ist der
PEH Q-Goldminenfonds von Martin Siegel mit 55 % Verlust, der
mich gleich doppelt aergert, weil hier naemlich dauernd mit
einer Krise kokettiert und diese regelrecht herbeigesehnt
wurde, dann aber niemand eine Vorsorge dafuer getroffen hat.
Was mich natuerlich in meinem Urteil trefflich bestaetigt,
den Urteilen der Goldlobby auch weiterhin keine Aufmerksam-
keit zu schenken.

Gold selbst habe ich gleich Anfang Januar dieses Jahres hef-
tig aufgestockt. Einfach als Versicherung fuer den fall der
Faelle. 10% meines Portfolios habe ich seitdem in Gold, in
Form eines waehrungsgesicherten Zertifikats und einem ETF.
Und konnte so den Durchbruch durch die 1.000er Marke mit vol-
len Taschen geniessen. Der ETF steht jetzt etwa plus minus
null, da der Goldpreisverfall durch die Dollarsteigerung
wettgemacht wurde. Das Quantozertifikat hingegen, das ich
vorher als ueberlegen betrachtet hatte, ist zweistellig im
Minus. So kann man sich irren. Aber auch hier bleibe ich
dabei.

Duemmste Fehler meinerseits waren, im Bondbereich auf kleine
Waehrungen gesetzt zu haben. Islaendisches Pfund, Schwedische
Krone und Neuseelaendischer Dollar. Ich habe erwartet, dass
es Waehrungskrisen gibt und die Investoren dann die kleinen
Waehrungen aufsuchen, die besser knapp gehalten werden koen-
nen als die grossen, die jetzt gnadenlos entknappt werden,
wie der Dollar oder der Euro. In dieser theoretischen Ver-
blendung habe ich jedoch nicht gesehen, dass in der Krise das
Vertrauen nur in die Grossen bestehen bleibt. Ein Fehler, der
viel Geld gekostet hat. Aufgefangen werden diese Verluste
allerdings durch eine grosse Position an Yen-Bonds, in der
ich meine Erloese aus den Aktienverkaeufen 2007 angelegt ha-
be, und die seitdem waehrungsbedingt 30 % zugelegt hat.

Und jetzt? Jetzt weise ich in diesem Jahr ueber alles gerech-
net knapp 12 % Verlust aus. Angesichts dieser epochalen Krise
geht das eigentlich. Obwohl dadurch natuerlich die gesamten
Zugewinne der letzten zwei Jahre vor der Krise verzehrt wor-
den sind. Ich stehe also wieder da, wo ich Anfang 2006 stand.
Nun gut. Meine Akteinquote liegt derzeit bei 40 %. Geht es
weiter herauf mit den Aktien, gebe ich etwas. Sehen wir hin-
gegen neue Tiefs, nehme ich noch etwas. Meine Cashquote liegt
derzeit immer noch bei 10 %.

Und zu Guter Letzt: Im Bondbereich habe ich alle Kurzlaeufer
des Bundes verkauft, die saemtlichst wunderbar ueber pari
standen, und dafuer eine extrem langlaufende Bundesanleihe
gekauft - als Schutz gegen einen weiteren Crash sowie die
Wirtschaftsabschwaechung - sowie 10 % meines Portfolios in
diverse Bankschuldverschreibungen und Pfandbriefe investiert,
die Renditen von 10 % bis 30 % p.a. bringen. Auch eine Ukrai-
ne-Anleihe habe ich gekauft. Dass die Rueckzahlungen hier
nicht erfolgen werden, davor habe ich keine Angst. Speziell
bei Bankschuldverschreibungen, die in 2009 faellig werden.

Kann man nun aus diesem Erfahrungsbericht etwas lernen? Ich
habe in jedem Fall etwas gelernt, alleine dadurch, dass ich
es aufgeschrieben habe. Aber vielleicht sehen Sie hieraus,
dass man mit guter Diversifikation und unaufgeregtem kontinu-
ierlichen Agieren auch in schwerster See zwar Schlagseite
bekommt, aber dennoch nicht untergeht.


++++++

Bernd Niquet ist Boersenkolumnist und Buchautor.

simplify 09-11-2008 21:41

hallo paul,
wenn ich das von dem niquet so lese, dann erinnere ich mich daran, dass wir ja im eigenen haus mal einen experten hatten. http://www.highperformance-aktien.de/


:rolleyes: eigentlich könnte der jörg uns mal ein paar exclusiv tipps geben oder?

http://www.mastertraders.de/trader-l...ergmeyer21.jpg

621Paul 10-11-2008 10:00

Hi Simplify,
entweder ist Jörg aufgestiegen oder wie müssen ihn einmal unter einer Brücke besuchen, weil man so gar nichts mehr von ihm hört.
Ob er es aber besser weiß wie wir? Da bin ich mir nicht ganz sicher. Vielleicht muss er ja davon leben, von dem was er verkauft und das sind bekanntlich immer die eigenen Empfehlungen.

Gruß
621Paul


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