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621Paul 09-02-2005 14:23

09.02.2005
Auf das Vermögen schauen, nicht auf die Ersparnis

Betrachtet man die öffentlich Diskussion, dann hat man manchmal den Eindruck, dass die volkswirtschaftliche Ersparnis das Wichtigste ist, was es gibt. Dass sie so etwas wie die Muttermilch jeder Volkswirtschaft ist, ohne die man weder groß noch stark werden kann. Dass also derjenige, der nicht spart, keine Muttermilch hat und folglich wirtschaftlich nicht überleben kann. Doch nichts könnte falscher sein als das.

Um etwas kaufen zu können, braucht man Geld. Geld ist eine Bestandgröße und wird gegen die Hinterlegung von Vermögen emittiert. Die wichtigste Größe jeder Volkswirtschaft ist daher der Vermögensbestand. Das ist das Resultat der so schwierigen Stock-Flow-Problematik jeder Volkswirtschaft(sanalyse): Die Stocks (Bestände) determinieren die Flows (Stromgrößen, wie Einkommen, Konsum und Ersparnis).

Das Vermögen wächst durch Bewertungsveränderungen und durch Investitionen. Um investieren zu können, braucht man Geld und keine Ersparnisse. Die Ersparnisse entstehen dabei vielmehr als Restgröße selbst, weil das Einkommen, das im Zuge des Investitionsprozesses geschaffen wird, auf Haushalts- und Unternehmensseite nicht voll verkonsumiert werden wird.

Nehmen wir an, die Unternehmen investieren 100 Einheiten neu. Dazu brauchen sie 100 Einheiten Geld, sprich 100 Einheiten Vermögen oder 100 Einheiten Kredit, was jedoch fast das Gleiche ist. Beim Kauf der Investitionsgüter steigt das BIP um 100 Einheiten – und die Ersparnis parallel ebenso, da die Investitionen ja nicht verkonsumiert werden. So weit die erste Runde. Und was anschließend passiert, hängt davon ab, was mit dem geschaffenen Einkommen geschieht. Ausnahme: Die Investitionsgüter werden im Ausland gekauft. Dann steigt das BIP nicht, dafür jedoch der Import.

Kann es nun eine negative Ersparnis geben? Und ist es eine Katastrophe, wenn die Sparquote sehr gering ist? Eine negative Ersparnis kann es nur dann geben, wenn der Kapitalstock einer Volkswirtschaft verkonsumiert wird. So etwas ist jedoch nirgendwo zu beobachten. Und niedrige Ersparnisse des privaten Sektors, denn darum geht es ja immer, um die Haushalte, sind nur dann schlecht, wenn sie mit niedrigen Investitionen einher gehen. Die Bundesrepublik Deutschland, Japan und die USA hatten im Jahr 2002 alle jeweils eine Investitionsquote von roundabout 18 % des BIP. In Deutschland steht dem etwas mehr private Ersparnis gegenüber, in den USA weniger, dafür mehr nicht entnommene Gewinne im Unternehmenssektor sowie Importgüter und in Japan weiß ich nicht.

Der Unterschied ist allenfalls graduell. Die Amis stehen natürlich etwas unsicher da mit ihren stark gestiegenen Immobilienpreisen, doch niemand sollte verkennen, wie wertvoll das US-Aktienvermögen ist. Denn auf nichts anderes kommt es an als auf den Vermögensbestand, auf den Stock – und nicht auf die Peanuts, die die Flows in jedem Jahr den Stocks hinzufügen. Und Japan ist sowieso so reich, dass sie jenseits von gut und böse liegen. Denn die Japaner besitzen alleine an Finanzvermögen umgerechnet 14.000 Mrd. US-Dollar. Die Deutschen im Vergleich dazu 3.000 Mrd. US-Dollar.

Man sollte also eher auf das Vermögen als auf die Ersparnisse schauen. Man sollte in starke Stock-Ökonomien und nicht in gutaussehende Flow-Ökonomien investieren. Denn die Flows fliegen allzu schnell davon. Bleiben tun alleine die Stocks. Sie bleiben, auch wenn vielleicht nicht bis zum jüngsten Tag. Auf jeden Fall werden sie den nächsten Sturm besser überstehen als die Flows. Japan ist das erste Beispiel, von dem wir in dieser Hinsicht lernen sollten. So eine epochale Krise fast ohne Kratzer zu überstehen, das soll ihnen erst einmal jemand aus dem Lager der privaten Spar-Hamster nachmachen.

berndniquet@t-online.de

621Paul 11-02-2005 22:50

11.02.05

Gute Börsen bis April/Mai zu erwarten

Vor ein paar Tagen habe ich mit einem Freund abends beim Wein gesessen und mir sein Szenario für die Märkte in diesem Jahr angehört. Was er gesagt hat, entsprach in vielen Punkten meiner eigenen Meinung. Die wichtigsten davon sind:

(1) Die US-Notenbank wird (nicht nur, aber auch vor dem Hintergrund von Greenspans Abtritt) die Zinsen weiter erhöhen – und zwar bis zu einem Punkt, an dem die Geldpolitik als neutral zu bezeichnen ist.
(2) Dieser Punkt wird höher liegen als von den Märkten gegenwärtig erwartet.
(3) Derartige Phasen schütteln die Märkte immer durcheinander.
(4) Kritischer Zeitraum ist hier die Fed-Sitzung Ende April, denn die Zinsanhebungen am kurzen Ende bis dorthin hat der Markt bereits eskomptiert. Danach beginnt jedoch Neuland.
(5) Es hat historisch noch niemals eine Zinserhöhungsphase durch die Notenbank gegeben, in denen die Aktien nicht unter Druck gekommen sind. Das hat auch Felix Zulauf in Zürich herausgestellt.
(6) Damit geht der historische Carry-Trade zu Ende, in dem man sich billig kurzfristiges Geld ausleihen konnte, um damit langlaufende Anleihen und Aktien zu kaufen.
(7) DAGEGEN STEHT, dass die Stimmung an den Märkten derzeit ausgezeichnet ist, dass das Momentum gut ist, die Unternehmensgewinne sprudeln – also schlichtweg beinahe die beste aller Welten herrscht.

In der Quintessenz heißt dies: Nach dieser Sichtweise dürften die Märkte noch bis weit ins Frühjahr hinein sehr gut laufen – und zwar sowohl der Bond- als auch der Aktienmarkt. Doch anschließend könnte es kritisch werden. „Sell in may and go away“ mag daher die richtige Strategie für das Jahr 2005 sein.

Doch die ganze Zeit, in der wir über dieses mögliche Szenario gesprochen haben, musste ich fast zwanghaft an ein Bild denken, das Bill McLaren in Zürich an die Wand geworfen hat – und über das ich hier schon geschrieben habe. Es geht um die 60jährigen und 30jährigen Börsenzyklen, dass die US-Börse in diesem Jahr genauso performen soll wie vor 60 und 30 Jahren. Und das würde bedeuten: Eine Zickzack-Bewegung bis zur Jahresmitte – und anschließend steil nach oben. Also genau das umgekehrte Szenario des hier Entworfenen.

Ich halte von derartigen Dingen bekanntlichermaßen gar nichts – und TROTZDEM muss ich jetzt feststellen, dass sich dieses Bild so sehr in meinem Kopf verankert hat, dass ich es nicht los werde. Es ist ja auch fast so etwas wie ein religiöses Heilsversprechen: Erst kommt noch eine Holperstrecke – und danach ist alles gut.

Mit so etwas fängt man die Leute – mit simplen Bilder und mit in der Zukunft liegenden Heilsversprechen! Und ich ärgere mich wahnsinnig, dass ich trotz größtmöglicher Gegenwehr davon nicht loskomme. Und ich male mir lieber nicht aus, wie es den Menschen gehen mag, die sich nicht einmal dagegen wehren.

berndniquet@t-online.de

621Paul 13-02-2005 07:54

13.02.2005

Ein Alptraum?

Von Dr. Bernd Niquet

Eigentlich wollte ich ja nur das alte Schloss besichtigen.
Doch dann war ich der Einzige bei der Fuehrung - und auf
einmal war alles so neblig. Ploetzlich sah ich lauter
Menschen an Bildschirmen sitzen. Was machten die denn hier
in diesem alten Gemaeuer? Hier hat es frueher doch ganz
anders ausgesehen. Was war nur geschehen, dass in diesem
traditionellen Ort der Abgeschiedenheit ploetzlich die
moderne Zeit eingezogen ist? Das konnte wohl wirklich nur
ein Alptraum sein.

Ich naeherte mich den Leuten an den Bildschirmen und
schaute ihnen ueber die Schulter. Sie schienen mich
zwar zu bemerken, beachteten mich aber nicht. Nachdem
ich mich etwas akklimatisiert hatte, fragte ich einen
von ihnen, was sie hier denn machen wuerden.

"Wir stellen Forderungen an die Industrielaender, die
Steuern fuer unsere Unternehmen zu senken. Und wenn
sie das nicht tun, dann drohen wir, unsere Standorte
in Niedrigsteuerlaender abzuziehen."

"Und was ist, wenn sie darauf eingehen und die Steuern
senken?" wollte ich wissen.

"Dann gehen wir in die naechste Runde und fordern erneut
Senkungen", antwortete er.

Ich ahnte bereits, was er antworten wuerde, wenn ich ihn
fragen wuerde, was sie denn anschliessend tun wuerden.
Deshalb ging ich lieber zum naechsten Tisch hinueber und
fragte, was man denn dort gerade tat.

"Wir stellen Forderungen an die Industrielaender, die
Loehne zu senken. Und wenn sie das nicht tun, dann drohen
wir, unsere Standorte in Niedriglohnlaender abzuziehen."

"Und was ist, wenn sie darauf eingehen und die Loehne
senken?" wollte ich wissen.

"Dann gehen wir in die naechste Runde und fordern erneut
Senkungen", antwortete er.

Puuh, dachte ich, das ist ja ganz schoen hart. Doch ehe
ich weiter nachdenken konnte, zog eine Karawane
Familienvaeter durch den Raum, die alle mit einer Eisen-
kette an den Fuessen aneinander gekettet waren. Ich lief zu
ihnen herueber und fragte einen von ihnen, was das denn
zu bedeuten haette.

"Wir fordern eine Eigenkapitalrendite von 25 Prozent
auf unsere Ersparnisse", sagte er zu mir.

"Und warum sind Sie dann wie Sklaven aneinander
gefesselt?" fragte ich zurueck.

"Ich habe keine Ahnung", antwortete er, "denn natuerlich
machen wir das alles freiwillig."

Ich gab noch keine Ruhe. "Und wie wollen Sie das schaffen?"

"Es muessen so viele Leute herausgeschmissen werden, bis
die Zielmarke erfuellt ist." Er zeigte mit dem Finger auf
die beiden Tische mit den Bildschirmen, an denen ich
vorher gestanden hatte und sagte: "Und dann kommen ja
noch deren Bemuehungen hinzu."

"Aber was ist, wenn es nun genau ihre Arbeitsplaetze sind,
die durch ihre hohen Forderungen abgebaut werden? Sind
Sie dann nicht selbst schuld an ihrem Schicksal?"

"Das mag sein", gab er mir zu verstehen, "doch darauf koennen
wir keine Ruecksicht nehmen. An der oekonomischen Logik kommt
niemand vorbei. Die oekonomische Logik hat zwar manchmal
nichts mit der normalen Logik zu tun, aber das aendert
nichts an ihrer Wahrheit." Er drehte sich zu den anderen
Familienvaetern an und sagte: "Los, jetzt singen wir
unser Lied, das Hohelied auf die oekonomische Logik."

Spaetestens jetzt, dachte ich muesste ich wirklich aufwachen.
Ich kniff mich und biss mir in den Arm. Aber nichts
passierte.
Das, was passierte, das passierte draussen in der Welt.


++++++

Bernd Niquet ist Boersenkolumnist und Buchautor.

Tester32 13-02-2005 09:36

Ich möchte zum Albtraum von Herrn Dr. Bernd Niquet noch ergänzend hinzufügen, daß bei einer ca. 50%iger deutschen Staatsquote der Einfluß der Wirtschaft auf die Beschäftigung zwar hoch bleibt, aber keinesfalls absolut ist. Wenn der Staat jedoch auch Arbeitsplätze durch Privatinvestitionen in der Wirtschaft entstehen lassen will, dann muß die Eigenkapitalrendite im internationalen Vergleich natürlich stimmen. Aber die bisherigen Schritte der letzten und aktuellen Bundesregierungen machen mich da eher skeptisch, daß die Politiker sich damit wirklich inhaltlich beschäftigen würde. Wir haben ja noch nicht mal einen ordentlichen Aktienmarkt, sondern ein Zockerparadies, der nichts für einen durchschnittlichen Bundesbürger ist. Auch steuerlich gibt sich der deutsche Staat die beste Mühe, den Bundesbürgern die "Liquidität" abzuschöpfen, damit er dieses Geld selbst investieren kann (und wir wissen alle, wie effizient die Staatsinvestitionen sind :( ). Die hohen Freistellungsaufträge, die man als Ausgleich für die Einführung der Kapitalertragssteuern eingeführt hat, hat man wieder ohne Gegenleistung halbiert und statt den Deutschen eine Kapitalbildung über die Kapitaleinkünfte zu ermöglichen, lieber eine automatisierte Kontenkontrolle ab Mitte 2005 eingeführt. :) Die steuerfreie Grundfreibeträge hat man in 2005 zwar von 7235 auf 7664€ erhöht, :top: so daß man einen Teil des Kapitals theoretisch auf Kinder transferieren könnte, aber gleichzeitig haben nahezu alle gesetzlichen Krankenkassen in den letzten Jahren ihre Satzungen dahingehend upgedatet, daß bereits ab ca. der Hälfte dieser Summe die Einkünfte versicherungspflichtig werden. :flop: Die Spekulationsfrist hat man bei Wertpapieren von 6 Monaten auf 1 Jahr verdoppelt und bei Immobiliengeschäften auf 10 Jahre gesetzt. Das sind alles nicht die richtigen Schritte, um den Deutschen eine langfristige Kapitalbildung zum Investieren zu ermöglichen. :D Und ohne daß die Leute das Geld für Investitionen haben ... OK, man kann natürlich auf ausländische Investoren hoffen, aber warum sollen sie in ein Hochsteuerland in Firmen mit einer niedrigen Eigenkapitalrendite investieren? Warum sollen sich Firmen sozial verhalten? Erst reißt der deutsche Staat die Investorenrolle von den Deutschen an sich und dann erwartet er, daß die Ausländer, die noch Geld haben, in den privaten Teil der deutschen Wirtschaft so ihr Geld investieren, daß möglichst viele Arbeitsplätze geschaffen werden, auch in Fällen, wenn es unwirtschaftlich ist? Na dann hofft mal ruhig weiter, liebe Bundesregierung, SPD und CxU!

Der deutsche Wohlstand ist im internationalen Vergleich immer noch relativ hoch, weil der Staat viele Programme früher auf Pump mit geliehenem Geld finanziert hat. Je weiter der Staat in die Schuldenfalle reinkommt, desto weniger wird er ausgeben können, so daß der "bezuschußte Wohlstand" bei uns sicherlich auch weiter zurückgehen wird und die Reallöhne dadurch sinken werden.

So gesehen, wird Herr Dr. Bernd Niquet wohl aus seinem Albtraum noch lange nicht aufwachen können. :( Aber mai, als Software-Spezialist bekomme ich auch in Niedriglohnländern was zu tun, wenn die letzte private Firma in Deutschland das Licht ausmacht, und die Bezahlung im staatlichen Sektor mir nicht passen wird. Außerhalb von führenden Industrieländern gibt es momentan folgende Angebote auf dem Arbeitsmarkt für mich:
  • ca. 1500 USD in Moskau,
  • ca. 8000 USD in Dubai,
  • ca. 3500 USD in Indien.
Die Preise in Moskau und Dubai verstehen sich als Netto-Preise, die indischen - weiß nicht.

621Paul 13-02-2005 10:01

Hallo Tester,
vielen Dank für deinen obigen Beitrag.

Gruß
621Paul

Tester32 13-02-2005 17:25

Zitat:

Original geschrieben von 621Paul
Hallo Tester,
vielen Dank für deinen obigen Beitrag.

Gruß
621Paul

Hallo Paul,

ich freue mich, daß Du meine Ausführungen gelesen hast und als interessant gefunden hast. Das war wirklich ein zeitaufwendiges Posting, an dessen Ende ich es fast bereut habe, daß ich es angefangen hatte (habe gerade nicht viel Zeit). Die angegebenen Preise sind übrigens Monatsgehälter, nicht jährlich. Man kann momentan in Dubai eine Menge mehr Kohle verdienen, als ich in München verdiene. Aber ich würde dann wohl in der Firma leben müssen, :( daher (noch) uninteressant.

621Paul 14-02-2005 14:23

Montag, den 14.02.2005

Die ultimative Provokation

Was ist die größte Provokation, die man heutzutage überhaupt begehen kann? Gibt es aktuell überhaupt noch einen Weg, so richtig zu provozieren? Lange Haare, Glatzenschnitt, Death Metal Musik, Brustimplantate – alles langweiliges Zeug. Gähn, haben wir gehabt, war schon gewesen. Es scheint nur noch eine echte Provokation zu geben – und dass ist, für die gegenwärtige US-Regierung zu sein und das augenblickliche Wirtschaftsverhalten in den USA zu loben. Doch muss eine gute Provokation natürlich fachlich solide untermauert sein.

Also los:

Die Sparquote in den USA ist auf 1 Prozent abgesunken, lautet der Kanon aller „Wirtschaftsexperten“ hierzulande. Die USA sparen nicht mehr, sondern konsumieren nur noch und leben unsäglich über ihre Verhältnisse. Lange kann das nicht gut gehen.

Das klingt zwar plausibel, ist jedoch völlig falsch. Denn die wirklichen Ersparnisse in den USA liegen gegenwärtig bei 18 % des BIP. Sie setzen sich nur anders zusammen als in unserem Lande, wo sie ebenfalls bei 18 % liegen. In den USA betragen die privaten Ersparnisse tatsächlich bei nur etwa 1 % des BIP, wohingegen wir etwa 10 % ausweisen. Doch daraus eine Überlegenheit des Deutschen Modells zu folgern, könnte falscher nicht sein.

Dazu folgende Überschlagsrechnung: Die Ersparnisse in jeder Volkswirtschaft müssen immer der Höhe der Investitionen entsprechen und setzen sich aus den Ersparnissen der privaten Haushalte, der Unternehmen, des Staates und (in Höhe des Außenbeitrages) des Auslandes zusammen.

In den USA ergibt sich dabei: Haushalt + 1%, Staat – 4%, Ausland +4%. Daraus folgt, dass in etwa 17 % des BIP im Unternehmenssektor gespart werden, hauptsächlich durch Lagerinvestitionen und nicht ausgeschüttete Gewinne, Rückstellungen und sonstige Eigenkapitalaufstockungen.

In Deutschland sparen die privaten Haushalte ungefähr 10 %, der Staat entspart 4 % und in das Ausland werden netto etwa 4 % exportiert, so dass auf das Unternehmenslager etwa 8 % entfallen.

In der Quintessenz bedeutet das: Während hierzulande die Unternehmen für ihre Investitionen etwa die Hälfte ihrer Mittel als Fremdmittel einwerben müssen, stehen den US-Unternehmen praktisch die gesamten Finanzierungsmittel als Eigenmittel zur Verfügung. Die Investitionen in den USA können daher viel unproblematischer durchgeführt werden als bei uns, wo alle Investmittel erst aufwändig und problembehaftet über Bankkredite und Ähnliches beschafft werden müssen.

Im Gegensatz zur öffentlichen Meinung zeigt eine niedrige Sparquote der privaten Haushalte in Verbindung mit einer hohen Gewinnquote der Unternehmen also keine Schwäche, sondern die Stärke einer Volkswirtschaft an. Die Unternehmen müssen viel verdienen; nicht die Haushalte müssen viel sparen. Dann flutscht es auch in der Wirtschaft. Ginge es nach unseren deutschen Vorstellungen, dann wären die Amis bald ebenso lahme Enten wie wir. Doch glücklicherweise geht es danach ja nicht.

berndniquet@t-online.de

621Paul 16-02-2005 13:52

16.02.05
Wie in den besten Zeiten am Neuen Markt

In Italien kann man beim Lotto auch auf die Ziehung einzelner Zahlen wetten. Hier werden nicht wie bei uns wöchentlich 6 aus 49 Zahlen gezogen, sondern 5 aus 90. Bei einer Gleichmäßigkeit des Zufalls müsste also jede Zahl durchschnittlich bei jeder 18. Ziehung etwa einmal gezogen werden (5x18=90, dann sind alle einmal durch). Abweichungen gibt es natürlich, doch vor kurzem hat man ermittelt, dass die „53“ über 180 Ziehungen lang nicht gezogen worden ist.

In diesem Zeitraum haben viele Menschen ihre Waschmaschinen und Autos verkauft, Kredite auf ihre Häuser aufgenommen und Geld unterschlagen, nur um alles auf die „53“ zu setzen – und sich damit zu ruinieren. Glaubt man den Zeitungen, dann hat der italienische Fiskus in dieser Zeit alleine durch das Setzen auf diese Zahl 4,4 Mrd. (!) Euro eingenommen. (Und als sie schließlich gezogen wurde, nur 800 Mio. ausschütten müssen.)

Im Grunde genommen ging es hier also zu wie an der Börse. Doch während die Börse zu keinem Zeitpunkt klar objektiv zu analysieren und zu beurteilen ist, ist die Lotto-Geschichte relativ trivial. Denn da jeweils aus der vollen Grundgesamtheit gezogen wird, es sich also um wöchentlich eine „Ziehung mit Zurücklegen“ handelt, ist die Wahrscheinlichkeit, dass die „53“ gezogen wird, völlig unabhängig von der Anzahl ihrer Ziehungen in der jüngeren Vergangenheit. Irgendwann muss sie zwar gezogen werden, doch ihre Ziehung ist keineswegs wahrscheinlicher als die jeder anderen Zahl.

Die Lottospieler sind also verrückt – und handeln sogar extrem gegen ihre eigenen Interessen, da die Quote bei Ziehung dieser Zahl viel niedriger ist als bei jeder anderen Zahl.

Am Junk-Bond-Markt sind 4,4 Mrd. Euro keine besonders hohe Summe. Hier wird derzeit zu historisch niedrigen Zinsen geborgt, was das Zeug hält. Man ist fast an die beste Zeit des Neuen Marktes erinnert, denn jeder, der gerade einmal seinen Namen schreiben kann, findet momentan problemlos den Zugang zu den Finanztöpfen der Anleger.

Ausgehen wird dieses Spiel nicht anders als die Lotto-Geschichte in Italien. Das Risiko, lang und länger laufende Staatsanleihen zu halten, wird täglich größer Sollten die Zinsen wieder steigen, wird es hier deutliche Verluste geben. Bei den Junk-Anleihen werden sich diese Verluste dann über eine Ausweitung der Spreads regelrecht multiplizieren. Wer jetzt so etwas kauft, kann nicht recht bei Trost sein. Dann doch lieber Lotto spielen, denn da ist die Einsatzsumme gemeinhin deutlich kleiner.

berndniquet@t-online.de

621Paul 20-02-2005 12:06

Sonntag, den 20.02.2005

Eine grosse Konfusion

Von Dr. Bernd Niquet

"Die USA leben ueber ihre Verhaeltnisse. Dort muss mehr ge-
spart und weniger konsumiert werden. Und hierzulande muss
abgespeckt, muessen die Kosten und die Loehne/Lohnnebenkosten
gesenkt werden." So oder so aehnlich heisst es immer wieder
in der oeffentlichen Diskussion. Doch ist das eigentlich
richtig? Sind diese Sprechblasen, die heute bereits als All-
gemeinbildung gelten koennen, weil sie von allen, von Politi-
kern, Unternehmern bis hin zum Mann auf der Strasse bei jeder
Gelegenheit in identischer Form wiederholt werden, eigentlich
wahr?

In der Wirtschaftsbetrachtung ergibt sich sehr oft eine
grosse Konfusion, wenn einzelwirtschaftliche Tatbestaende auf
die Gesamtwirtschaft angewendet werden - also wenn das, was
einer macht oder machen soll, ploetzlich gedanklich auf alle
ausgedehnt wird. Senkt ein Unternehmen seine Kosten, indem es
Arbeitnehmer entlaesst und/oder die Lohnkosten drueckt, dann
kann es sich damit sanieren. Tun das jedoch alle Unternehmen,
dann muessen sie damit scheitern, da der Kostensenkung auf
Unternehmensseite stets eine proportionale Einkommenssenkung
auf der Haushaltsseite entspricht. Die von den Unternehmen
produzierten Gueter koennen folglich nicht abgesetzt werden.

Eine derartige Strategie kann daher nur dann aufgehen, wenn
die Unternehmen erstens ihre Produkte zum grossen Teil im
Ausland verkaufen und zweitens im Ausland eine derartige
Politik nicht verfolgt wird. Die Welt als Ganzes kann sich
jedoch nicht ueber Kostensenkungen sanieren, sie kann das nur
ueber Wachstum. Dieser Fall ist sicherlich leicht einzusehen
und zu verstehen, was sich auch daran zeigt, dass er in man-
chen Teilen unserer Gesellschaft ebenfalls zum Allgemein-
wissen aufgestiegen ist. In diesem Bereich gibt es also
gleichsam bereits zwei Arten von Allgemeinwissen, die sich
beide allerdings extrem widersprechen.

Viel schwieriger ist hingegen der Fall USA. Nehmen wir einen
US-Privathaushalt. Dieser Haushalt hat im Monat ein Einkommen
von 3.000 Dollar, die er voll ausgibt. Sparen will er nicht,
weil er das nicht muss, denn schliesslich besitzt er ein Haus
im Wert von 300.000 Dollar, also dem hundertfachen Monatsein-
kommen, sowie darueber hinaus noch Aktien im Wert von drei
Jahreseinkommen. Grosse Teile seines Einkommens gibt der
Haushalt im Ausland aus, denn in diesem Haushalt wird aus-
schliesslich original chinesisches Essen gegessen.

Lebt dieser Haushalt ein gefaehrliches Leben? Lebt er ueber
seine Verhaeltnisse? Schliesslich hat er doch eine Sparquote
von null und ein extrem hohes Leistungsbilanzdefizit mit dem
Ausland.

Nein, dieser Haushalt ist gesichert und lebt keinesfalls
ueber seine Verhaeltnisse. Warum sollen dann jedoch hundert
oder tausend oder viele Millionen derartiger Haushalte, die
einzeln nicht ueber ihre Verhaeltnisse leben, zusammen hin-
gegen sehr wohl ueber ihre Verhaeltnisse leben? Ist es wirk-
lich richtig, dass sie das tun?

Eine Antwort darauf ist schwer zu geben. Hier muessen sehr
komplexe Prozesse analysiert, sowie Vermoegenspositionen,
Leistungsfaehigkeiten und internationale Konkurrenzsitua-
tionen bewertet werden. An einfachen Daten wie der Sparquote
oder dem Leistungsbilanzdefizit kann man das jedoch nicht
festmachen. So etwas zu machen, hat letztlich keinen anderen
Stellenwert als beispielsweise aufgrund des Geburtszeitpunk-
tes eines Menschen auf seinen Charakter zu schliessen. Doch
so etwas soll es ja geben. Das jedoch zeigt nur: Manche Wirt-
schaftsdoktrinen haben letztlich keinen anderen Status als
die reine Sternendeuterei.

621Paul 21-02-2005 15:07

Montag, den 21.02.2005
In dieser Woche kommt ein neuer Hollywood-Film mit dem schönen Namen „White Noise“ in unsere Kinos, der davon handelt, Botschaften von Verstorbenen aus dem Weltraum per Antenne und Tonbandgerät empfangen zu können. Man ist natürlich sofort an die Börse erinnert, denn sitzen hier nicht auch Zehntausende, ja Millionen täglich vor ihren Geräten und glauben, Stimmen zu hören?

Ob diese Stimmen nun von Verstorbenen aus dem Weltraum oder aus dem Markt kommen sollen, ist dabei letztlich egal. Ein Vertreter der Gesellschaft zur Untersuchung von Parawissenschaften sagt dazu, das alles wäre ein reines Wahrnehmungsphänomen. Das menschliche Gehirn sei so konditioniert, bekannte Muster zu erkennen, weshalb man selbst auf einem orientalischen Basar, auf dem niemand deutsch spricht, deutsche Worte hören wird, wenn man es darauf anlegt. Und dann kommt natürlich sofort auch noch das Massenphänomen hinzu: Einer hört etwas und sagt es – und plötzlich hören es auch alle anderen.

Während früher also der Onkel Egon in Klapse gekommen ist als er Stimmen gehört hat, wird er heute Marktanalyst und von einer internationalen Großbank mit viel Geld dafür bezahlt, herauszuhören, was der Markt uns zu sagen hat.

Aber auch ansonsten haben die Börse und der Weltraum durchaus eine Menge gemein: In beiden gibt es schwarze Löcher, verglühende Sterne und eine ganze Menge unendliche Dunkelheit und Ratlosigkeit. Eine Unendlichkeit und Unerfassbarkeit, mit der die Menschen einfach nicht leben können. Deswegen hören sie lieber Stimmen und sehen Bilder, die es gar nicht gibt, als sich einzugestehen, wie unwissend sie sind und für immer bleiben muss. Einbildung ist schließlich auch eine Bildung – und für viele die einzig mögliche. Gerade an der Börse.

berndniquet@t-online.de

621Paul 23-02-2005 19:41

Mittwoch, den 23.02.05

Die Blase am Aktienmarkt bis zum Jahr 2000 bestand darin, dass das Wachstum als beinahe unendlich angenommen wurde. Und nicht nur das. Es wurde strenggenommen gar nicht mehr über das Wachstum selbst gesprochen, sondern nur noch über das Wachstum des Wachstums – also über die Beschleunigung des Wachstums, über die bekannte Exponentialfunktion. Ich habe diese Zeit deshalb schon damals „Das Zeitalter der zweiten Ableitung“ genannt. Doch es währte ja nur recht kurz.

Heute gibt es wieder eine Übertreibung, schreiben die Leute von „Das Kapital“ in der FTD, doch dieses Mal liegt es nicht im Wachstum, sondern in den Annahmen zur Rentabilität der Unternehmen. Ich zitiere: „In Europa wird für 2005 im Mittel eine operative Marge von elf Prozent unterstellt, gegenüber etwa acht Prozent im langjährigen Schnitt ... Mikroökonomisch macht das Aktien wertvoll. Aber wiewohl die Globalisierung den Firmen derzeit zugute kommt, ist es makroökonomisch quasi undenkbar, dass diese Margen nachhaltig sind.“

Hier ist es wieder, mein Lieblingsthema, nämlich die Differenz zwischen dem Einzelnen und dem Aggregat. Ein einzelnes Unternehmen kann dauerhaft besser als im Schnitt verdienen. Alle Unternehmen können das jedoch nicht. Wenn nicht etwas ganz Besonderes passiert.

Aus meiner Sicht wird allerdings etwas ganz Besonderes passieren – doch das geht eher in die gegenteilige Richtung. Gegenwärtig profitieren die Unternehmen von den Kostenreduktionen. Doch da den Kostenreduktionen spiegelbildlich gleich hohe Einkommensreduktionen entsprechen, wird es auf der Absatzseite Probleme geben.

Und dann gibt es ja auch noch meine These von der „Rückkehr zum klassischen Szenario“. Man möge dazu einmal einen Blick in ein Makro-Lehrbuch werfen. Denn da steht: Im Gleichgewicht bei vollständiger Konkurrenz sind die Unternehmensgewinne gleich null. So wird das natürlich nicht eintreten, doch je größer die internationale Konkurrenz wird, umso größer der Druck auf die Preise und die Gewinne. Die Zukunft wird nicht unbedingt leicht werden.

berndniquet@t-online.de

621Paul 25-02-2005 14:29

Freitag, den 25.02.2005

Ein Börsianer aus einem fernen Land findet in einem alten Buch der Wahrheiten, dass ein kleiner Kopf und ein langer Bart bei einem Mann ein untrügliches Zeichen von Dummheit sind. Er schaut in den Spiegel und sieht, dass das durchaus auch auf ihn auch zutrifft. „Nein, das kann nicht sein.“ Er stemmt sich gegen diese Wahrheit. Doch dann hält er es nicht mehr aus. Seine Kopfgröße kann er natürlich nicht verändern, doch dass Männer mit kleinem Kopf und kurzem Bart dumm seien, davon steht nichts im Buch der Wahrheiten.

Da er keine Schere zur Hand hat, greift er zum Leuchter ... Mit verbranntem Gesicht und schwarz vor Russ schreibt er noch kurz vor dem Abtransport ins Krankenhaus: „Dieser Satz hat sich auch in der Praxis als wahr herausgestellt.“

Ein Börsianer aus heimischen Landen liest in einer Zeitschrift der Wahrheiten, dass Börsenjahre, die mit einer „5“ enden, stets gute Börsenjahre sind. „Nein, das kann nicht sein. Es sprechen wirklich alle Fakten dagegen.“ Er stemmt sich gegen diese Wahrheit. Doch dann hält er es nicht mehr aus. Seine Order ist groß und treibt den Markt nach oben. „Ob die anderen auch in der Zeitschrift der Wahrheiten geblättert haben?“

berndniquet@t-online.de

621Paul 27-02-2005 12:46

Das Wort zum Sonntag , den 27.02.2005

Das Psychogramm eines erfolgreichen Pessimisten

Von Dr. Bernd Niquet

Als der Boersianer noch ein kleiner Junge war, stritten die
Eltern oft. Er zog sich dann in sein Zimmer zurueck und ord-
nete seine Spielsachen. Angstvoll fragte er sich: "Was
passiert nur Schlimmes als naechstes?" Dann war wieder alles
gut. Fuer eine gewisse Zeit. Doch der naechste Streit wurde
noch heftiger, denn jetzt stritten die Eltern sogar ueber ihn
selbst. Er rannte in sein Zimmer, zog sich die Bettdecke
ueber den Kopf und ueberlegte: "Was passiert nur Schlimmes
als naechstes?"

Heute weiss er von all dem ueberhaupt nichts mehr. Man muss
es ihm sagen, denn die Erinnerung daran ist verschuettet. Und
waere sie nicht verschuettet, dann waere sie verblasst. Denn
die Zeit, die vergeht, neigt dazu, das Schlechte verschwinden
und das Gute bestehen zu lassen. Laengst vergangene Zeiten
sind immer gute Zeiten. Angst und Sorge liegen immer nur in
der Zukunft: "Was passiert nur Schlimmes als naechstes?"

Nur in seinem Zimmer war der Boersianer als Junge ungestoert.
Was fuer ein Glueck, dass er wenigstens diese Zuflucht hatte.
In seinem Zimmer entwickelte er alternative Welten, Welten,
in denen die Zukunft berechenbar war, in der nicht dauernd
Schlimmes befuerchtet werden musste. Denn das Schlimme war ja
bereits eingetreten, warum sich davor also noch fuerchten?
Wenn das Eintreffen des Allerschlimmsten bereits als Tatsache
behandelt wird, dann hat die Angst keine Grundlage mehr, dann
kann die Angst nicht mehr bohren und nicht mehr nagen. Der
Boersianer hat dieses Refugium zeitlebens nicht verlassen. Es
war ihm immer Stuetze und Halt.

Schon in fruehester Jugend hat der Boersianer jedem anerkann-
ten Wissen misstraut. "Hinter jeder Lektion steht ein per-
soenliches Interesse von jemandem", hat er schon zur Schul-
zeit gesagt. Er hat immer alles anders gesehen als alle sei-
ner Mitschueler. Darueber ist zum Aussenseiter geworden mit
dem man ueber nichts mehr reden konnte, weil er ueberall nur
boese Absichten gesehen hat. Selbst bei den Maedchen.

Dann kam irgendwann die grosse Krise. Er ist schlichtweg aus-
gerast bei der kleinsten Kleinigkeit. Am liebsten haette er
jeden, der ihn nur im Entferntesten stoerte, umgebracht. Die
ganze Welt haette er jetzt in die Luft sprengen koennen. Und
dann ist er krank geworden. Schwindelgefuehle, dauernde ra-
sende Kopfschmerzen. Sein Arzt riet ihm zu psychologischer
Hilfe. Doch so etwas haette der Boersianer niemals in An-
spruch genommen. Er war doch kein Schlappschwanz. Und an
diesem psychologischen Mist ist doch sowieso nichts dran,
dass wusste er eh.

Der Boersianer meisterte die Krise, in dem er sich ganz in
die Arbeit stuerzte. Morgens war er der erste im Buero und
abends sass er noch bis in die Nacht. Heute ist er der Leiter
der Handelsabteilung eines grossen Wertpapierhauses, hat eine
bildhuebsche Frau und zwei wohlerzogene Kinder. Seine drei
Autos sind allesamt schwarz, tragen seine Initialen im Kenn-
zeichen und sind stets blitzblank gewaschen. Seine Freunde
meinen, dass er seine damalige Krise blendend ueberstanden
hat.

In das Innere des Boersianers koennen wir nicht hinein
schauen. Doch wenn es die Boerse nicht gegeben haette, dann
waere er ganz sicher zum Terroristen geworden. So ist er aber
auch zum Terroristen geworden. Denn jede Marktwirtschaft, in
der Gutes getan wird, braucht dazu auch das Boese. Fuer je-
den, der an die Prosperitaet und an den Wohlstand glaubt,
braucht man ein Spiegelbild, der dem allem misstraut und ver-
kauft.

Nachts liegt der Boersianer oft wach im Bett. "Was passiert
nur Schlimmes als naechstes?" Das, was frueher eine existen-
tielle Bedrohung war, ist heute seine Existenz. So koennen
sich die Dinge im Leben umdrehen. Der Boersianer fuerchtet
das Schlimme nicht mehr. Das war einmal so. Heute hingegen
wettet er aggressiv und mit viel Geld auf sein Eintreffen.
"Was passiert nur Schlimmes als naechstes?" Morgens ist er
schon frueh aus dem Haus. Seine Kinder muessen heute zum
Schulpsychologen, weil sie ihre Fingernaegel bis zu den
Fingerkuppen abgenagt haben.

++++++

Bernd Niquet ist Boersenkolumnist und Buchautor.

621Paul 28-02-2005 13:12

28.02.2005
Es ist anscheinend mal wieder soweit: Überall liest und hört man derzeit Weltuntergangsstimmung an den Finanzmärkten. Die Kurse der Aktien und Bonds sind hoch – und der Pessimismus wächst beinahe ins Abstruse. Eigentlich ist das ein gutes Zeichen.

Doch die Argumente der Pessimisten sind natürlich überzeugend. Wenn man nicht weiter denkt. „Alle Experimente mit nicht metallgedecktem Geld sind in der Vergangenheit gescheitert“, lese ich gestern. Das ist natürlich schlimm – und das ist (fast) richtig. Dieser Satz ist ein schlimmer Satz, und er kann einem Angst und Bange machen. Krachen demnächst wirklich alle unsere Währungen zusammen? Und gibt es dann wieder einen Goldstandard oder Ähnliches?

Worüber jedoch niemand öffentlich redet, ist Folgendes: Alle Experimente mit metallgedecktem Geld sind in der Vergangenheit ebenfalls gescheitert. Oho.

Die Lage ist jedoch noch etwas krasser: Metallgedeckte Währungen sind bisher alle (!) gescheitert. Denn es gibt heute keine einzige mehr. Und das hat seinen guten Grund. Bei den Papierwährungen gibt es hingegen zumindest einen Fall, der bis heute Bestand hat. Es steht also 0:1.

„Das US-Leitungsbilanzdefizit ist kaum noch tragbar, weil der Rest der Welt es nicht mehr zu finanzieren bereit ist“, lese ich ebenfalls gestern. In der Tat, hier gibt es ein besorgniserregendes Ungleichgewicht. Das ist schlimm und kann einem Angst und Bange machen.

Doch was wäre eigentlich, wenn die USA kein Defizit, sondern einen Überschuss aufweisen würden? Dann würde Asien und Europa wirtschaftlich in einer tiefen Depression nieder liegen – und die USA müssten die gesamte Welt finanzieren. Und die selben Leute, die sich aktuell über das Damoklesschwert der hohen Dollarguthaben der Asiaten sorgen, würden dann die Katastrophe der fehlenden Dollarguthaben und der entsprechenden Kreditfinanzierung in Fremdwährung der Wirtschaften in Asien und Europa an die Wand malen.

Man kann es den Leuten eben einfach nicht Recht machen. Ist es so, dann ist es falsch. Ist es anders, ist es auch schlecht. Und selbst wenn es keine Bedrohungen mehr gäbe, dann, da bin ich ganz sicher, würden postwendend erfinderische Leute auftreten, die sofort eine neue Bedrohung erfunden hätten. Der Mensch ist eben ein erfinderisches wie furchtsames Wesen. Eine Zeit ohne Bedrohungen ist daher undenkbar. Wir sollten die gegenwärtigen Bedrohungen daher ruhig ausgiebig feiern. Denn sie sind die nahezu kleinsten, die man sich überhaupt vorstellen kann.

berndniquet@t-online.de

621Paul 02-03-2005 14:40

Mittwoch, den02.03.2005
Für manche Dinge gibt es ganz präzise und klare Vergleiche. In den sechziger und siebziger Jahren lebten wir hierzulande wirtschaftlich wie in einem Zoo. In einem Zoo ist es eng und miefig, man kann keine großen Würfe machen, doch dafür findet jedes Töpfchen sein Deckelchen – und jeder hat täglich sein Fresschen.

Seit der Liberalisierung der Finanzmärkte – und ganz besonders seit dem Fall der Mauer zwischen Ost und West – sind die Gitterstäbe des Zoos verschwunden. Aus der Kulturlandschaft „Zoo“ ist wieder die freie Wildbahn geworden. Jetzt ist nichts mehr eng und miefig, heute kann, ja muss sich jeder selbst verwirklichen. Heute darf man sein Fresschen überall suchen und finden. Das Wildern ist zur neuen Ordnung geworden. Friss, finde dein eigenes Fresschen – oder stirb. So lautet heute die Maxime für die Unternehmenstierchen von heute. Dabei werden die einen dick wie die Walrosse und die anderen schmal wie die Eichhörnchen.

Und genau an dieser Stelle beginnt der Vergleich zu kippen. Denn wie würden sich verantwortungsbewusste Zoodirektoren diesem Wildwuchs gegenüber verhalten? Man würde sicherlich versuchen, die Tiere wieder einzufangen, ihnen Grenzen setzen, wo und wie sie sich ihr Futter beschaffen können.

Doch was tun unsere Zoodirektoren in Wirklichkeit? Sie werfen sich untertänigst auf den Boden und bitten die großen Tiere, doch lieb zu sein und sie nicht aufzufressen. Komische Zoodirektoren sind das, die da auf dem Boden kauern und nach der Pfeife der Tiere tanzen.

berndniquet@t-online.de

621Paul 06-03-2005 10:38

Es war einmal ein Mann, der hatte Herzprobleme. Er ging zu einem Arzt. Der Arzt half ihm gut. Doch als er die Rechnung des Arztes sah, setzte sein Herzschlag aus und er starb.

Die internationale Finanzlage ist ebenfalls von einiger Komik gekennzeichnet. Einerseits will die ganze Welt den Amerikanern Waren verkaufen, andererseits wollen sie alle keine Dollars nehmen. Die Lösung dieses Problems ist eigentlich recht trivial. Es gibt drei verschiedene Lösungsmöglichkeiten:

(1) Wir verkaufen den Amis nichts mehr.
(2) Wir verkaufen weiter und hören auf zu jammern.
(3) Wir bleiben weiterhin die selben doppelmoraligen, tratschenden Klageweiber, Heulsusen und Muttersöhnchen, die wir schon immer waren.“

Was wird passieren? Ich tippe auf Variante (3). Mutti, Mutti, hilf uns. Diese gemeinen Amerikaner, die hauen uns ...

berndniquet@t-online.de

Bernd Niquet macht in der nächsten Woche Urlaub, so dass an dieser Stelle nur eine Kolumne (am Dienstag) erscheinen wird.



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berndniquet@t-online.de

621Paul 06-03-2005 10:51

Das wort zum Sonntag, den 06.03.05

Die oeffentliche Vernebelung

Von Dr. Bernd Niquet

Welcher Unterschied besteht eigentlich zwischen Sozialismus
und Demokratie hinsichtlich des Wissenserwerbs der Bevoelke-
rung? Bei ersterem wird der Wissensstand zentral vermittelt.
Und bei letzterem auch.

Dieser Befund ist erstaunlich, doch er ist in vielen Berei-
chen nicht von der Hand zu weisen. Der Wissensstand grosser
Teile der Bevoelkerung ist in vielen Bereichen derart uni-
form, dass einem das Grausen kommt. Nehmen wir als Beispiel
die Wirtschaft. Hier gibt es prinzipiell zu jeder Thematik
verschiedene Sichtweisen, doch durch permanente Wiederholun-
gen auf allen Ebenen unserer Gesellschaft (Unternehmensver-
baende, Politik, Medien) hat sich mittlerweile ein Dogma her-
auskristallisiert, welches die Mehrheit der Menschen mittler-
weile wohl schlichtweg fuer die Wahrheit haelt. In Wirklich-
keit handelt es sich jedoch nur um die Interessen einer
bestimmten Klientel - und damit um ein Halbwissen, aus dem
bewusst die zweite Haelfte ausgeblendet worden ist.

Wichtig fuer unsere Zukunft sind danach: Reformen, Flexibili-
taet, Steuerermaessigungen fuer Unternehmenssteuern,
Lohn(nebenkosten)senkungen, Kostenreduktion der Unternehmen,
Produktivitaetssteigerungen, Gewinnerhoehungen, Rueckfuehrung
des Staatsbudgets, des Staatsdefizits, der Staatsverschuldung
... Wir muessen also alles tun, so diese Sichtweise, dass den
Unternehmen ein guenstiges Szenario geboten wird, um hierzu-
lande wieder zu investieren.

Doch werden sie das tun? Natuerlich nicht! Denn wem sollten
sie schliesslich auch die Produkte verkaufen, die sie dann
zusaetzlich produzieren koennen? Die kann doch keiner kaufen,
wenn man vorher die Leute alle rausgeschmissen hat - und der
Staat auch nicht mehr handlungsfaehig ist. Darueber redet
freilich kaum einer, denn dann wird es ploetzlich kompliziert
und nicht mehr plakativ. Es geht ja auch nicht um das Ganze,
sondern nur um Partikularinteressen. Und die Unternehmen wer-
den natuerlich dennoch investieren. Vielleicht in eine Fabrik
in Indien oder auch in ein paar chinesische Aktien. Ist doch
auch gut so. Denn dann koennen wir alle stolz sein auf die
Groesse der deutschen Unternehmen. Wie die Kinder in den
Favelas von Rio auf ihre Fussballstars.

Einen anderen, noch leichter zu durchschauenden Fall hat mir
neulich ein netter und sehr kompetenter Mensch im Kaffeehaus
erlaeutert. Ueberall herrscht der Glaube vor, dass die US-
Konsumenten gut gegen Produktschaeden geschuetzt sind, weil
die Gerichte stets horrende Schadensersatzforderungen be-
schliessen. Was jedoch die meisten nicht wissen, ist, dass es
sich dabei ausschliesslich um Urteile der ersten Instanz
handelt. In der zweiten Instanz gibt es hingegen stets einen
Vergleich, ueber den alle Beteiligten dann jedoch schweigen
muessen. Die Zahlungen werden dadurch deutlich reduziert -
und fuer den klagenden Konsumenten bleibt durch hohe Streit-
werte und entsprechend hohe Gerichts- und Anwaltsgebuehren
meistens kaum noch etwas uebrig.

Alles sieht also danach aus, als ob der Konsument gut ge-
schuetzt ist. Doch er ist es nicht. Dieses System aufrecht zu
halten ist allerdings - trotz mancher zu leistender Zahlungen
- ein wunderbares Geschaeft, denn exakt dadurch laesst sich
die Einfuehrung eines fuer den Unternehmenssektor wirklich
kostentraechtigen Produkthaftungsgesetzes verhindern.

++++++

Bernd Niquet ist Boersenkolumnist und Buchautor.

621Paul 08-03-2005 13:39

Dienstag, den 08.03.05

An den Finanzmärkten kann man genau die gleichen Phänomene beobachten wie in fast allen anderen Disziplinen des normalen Lebens auch. Passiert etwas, das einem Angst macht und das man daher nicht recht einordnen kann, dann muss etwas geschehen. Die erste Maßnahme ist stets, einen Namen für die Bedrohung zu finden.

Aufgrund meiner Liebe für aktuelle französische Literatur bin ich auf das bemerkenswerte Buch „Borderline“ von Marie-Sissi Labrèche gestoßen. Interessehalber habe ich anschließend einmal im Netz geschaut, was eigentlich unter dem Borderline-Phänomen zu verstehen ist und was es für Sachbücher zu diesem Thema gibt. Was ich gefunden habe, hat mich sehr überrascht. Keine Angst, ich verliere die Börse dabei nicht aus den Augen.

„Borderline“ ist die Bezeichnung für eine psychische Störung, die als Kombination von Neurose und Psychose auftritt – also etwas ganz Normales. Man hat also nur einen schicken neuen Namen für einen alten Hut gefunden, wahrscheinlich, um dadurch dem Staat neue Forschungsmittel für vermeintlich völlig neue Forschungsprojekte aus den Taschen zu ziehen.

Noch erstaunlicher ist jedoch, was die Leser von Sachbüchern über Borderline im Netz schreiben. Zwei exemplarische Beispiele: „Ich habe vor einigen Wochen selbst die Diagnose „Borderline“ bekommen und daraufhin unheimlich viele Bücher zu diesem Thema gelesen ...“ Und: „Wenn man gerade erfahren hat, dass man an Borderline leidet und noch keine Ahnung hat, was los ist, ist das Buch sehr hilfreich.“

Was geht hier nur vor? frage ich mich, habe die Antwort jedoch bereits gegeben: Es ist genau der gleiche Scheiß wie an den Finanzmärkten! Psychische Störungen kann man nicht dadurch bekämpfen, indem man ihnen ein Etikett anhaftet. Jemanden nach Hause zu schicken und ihm zu sagen, er habe „Borderline“, ist grotesk. Und – und das ist das Wichtige (!) – es verschlimmert die Situation für alle Beteiligten auf ungeheure Weise.

Plötzlich wird die Diagnose nämlich zur sich selbst erfüllenden Prophezeiung. Würde an den Finanzmärkten nicht die Mär umgehen, das US-Leistungsbilanzdefizit verursache eine Dollarkrise und führe damit die Weltfinanzen an den Abgrund, dann würde das US-Leistungsbilanzdefizit auch keine Dollarkrise verursachen und die Weltfinanzen nicht an den Abgrund führen.

Doch genauso wie man mit dem Patienten „Weltfinanz“ umgeht, geht man auch mit den kleinen Borderline-Mädchen um: Anstatt ihnen eine Therapie schmackhaft zu machen, und dann mal zu sehen, was passiert, drückt man ihnen einen dicken, schmerzhaften und niemals mehr abwaschbaren Stempel mitten ins Gesicht. Borderline, auf der Grenze balancierend, zum Absturz freigegeben. Hier wie da. Im Kleinen wie im Großen.

berndniquet@t-online.de

Urlaubsbedingt erscheint die nächste Kolumne von Bernd Niquet an dieser Stelle erst wieder am Montag, den 14. März.

621Paul 14-03-2005 13:13

Was war die richtige Überlebensstrategie im Zeitalter der Herrschaft der Kirche? Auf die Knie fallen, den Kopf senken und auf die Wohltaten des Herren warten.

Und was ist die richtige Überlebensstrategie im Zeitalter der Herrschaft der liberalisierten Finanzmärkte? Auf die Knie fallen, die Unternehmenssteuern senken und auf deren Wohltaten warten.

Es hat sich also nicht viel geändert.

Die Amerikaner sind vielleicht fleißiger im Beten als wir, doch beim Bücklingmachen sind wir die Könige, wie unsere Geschichte zeigt. Am Donnerstag ist Bücklingsgipfel – um Kapitalanlagen in Deutschland muss man sich wohl keine Sorgen machen.

berndniquet@t-online.de

621Paul 20-03-2005 17:26

Das Wort zum Sonntag, den 20.3.2005
 
Es bleiben nur noch Illusionen

Von Dr. Bernd Niquet

Die Medizin hat in den letzten Jahrzehnten unglaubliche Fort-
schritte gemacht. Heute sind Krankheiten in den Griff zu be-
kommen, an deren Heilung man vor einiger Zeit nicht zu denken
gewagt hat. Und was heute noch nicht heilbar ist, das ist
sicherlich morgen heilbar. Der Fortschrittsglaube ist nahezu
ungebrochen.

Ganz aehnlich sieht es auch in der Geldpolitik aus. An Fi-
nanzmarktkrisen wie 1998 und 2000 ff. waeren wir vor einigen
Jahrzehnten noch elendig verreckt - ganz aehnlich wie in den
Dreissiger Jahren. Doch heute haben wir das Wissen und die
Strukturen, ihren entgegen zu wirken.

Betrachten wir hingegen die Wirtschaftspolitik im engeren
Sinne, dann sieht es ploetzlich voellig anders aus. Hier wird
zwar munter darueber gestritten, wie man die Arbeitslosigkeit
am besten bekaempfen kann, doch dieser Streit vernebelt, dass
er letztlich voellig substanzlos ist. Es ist eine reine Spie-
gelfechterei, eine gigantische Taeuschung. Es wird so getan,
als ob es verschiedene Wege gaebe, unsere Volkswirtschaft
durch aktives Handeln wieder aus der Talsohle zu holen.

Es wird von beiden Seiten des politischen Lagers so getan,
als ob jetzt an aktivem Management mangele, als ob es mehrere
Wege gaebe, einen erfolgreichen und einen weniger erfolgrei-
chen - wobei man sich gegenseitig vorwirft, dass die andere
Seite den falschen und nur man selbst den richtigen Weg ver-
folgt. Ein nuechterner Blick auf die nackten Tatsachen hinge-
gen zeigt, dass es gar keinen Weg gibt, etwas gegen die ge-
genwaertige Malaise zu tun. Die Wirtschaftspolitik ist ausge-
reizt. Sie ist am Ende. Und das Einzige, was jetzt noch
uebrig bleibt, ist, sich zurueckzulehnen und zu sehen, was
passiert.

Was soll man auch tun? Die deutsche Volkswirtschaft hat kein
Kostenproblem, sondern ein Nachfrageproblem. Doch wie soll
man die Nachfrage stimulieren? Der Staat faellt aus, er ist
ueber beide Ohren verschuldet. Mehr Staatsnachfrage gaebe es
nur in Verbindung mit hoeheren Steuern, doch das bringt gar
nichts. Es bleiben also nur die Privaten. Doch angesichts der
Arbeitsplatzrisiken und der demografischen Katastrophe, die
uns erwartet, tun die Konsumenten gut daran, ihr Vermoegen zu
horten und nicht zu verausgaben. Wer soll also einspringen?
Die Unternehmen koennten es tun, doch die streichen die Sub-
ventionen und Steuervorteile ein, lachen sich ins Faeustchen
und gehen woanders hin.

Was soll man also tun? Man kann nichts mehr tun. Es muss auch
ohne ein Tun gehen. Es muss so gehen, und es wird auch so ge-
hen. Ausser Reden kann man nichts mehr tun. Aber das koennen
wir natuerlich sehr gut, ganz besonders in den politischen
Kreisen. Hier muss die Illusion aufrechterhalten werden, dass
man etwas tun kann, weil man selbst ja ansonsten keine Exis-
tenzberechtigung mehr vorweisen koennte. Und so streitet man
dann um jedes Zehntel Prozent Sozialabgabenveraenderung als
ob davon das Schicksal unseres Landes abhaengen wuerde.

Alexander von Schoenburg hat gerade ein bemerkenswertes Buch
veroeffentlicht mit dem Titel "Die Kunst des stilvollen Ver-
armens". Besser kann man den Zeitgeist gar nicht treffen,
denke ich. Nach dem Sozialismus ist fuer Schoenburg nun auch
Ludwig Erhards "Wohlstand fuer alle"-Ideologie gescheitert:
"Wir alle werden lernen muessen, in Zukunft mit weniger aus-
zukommen. Wer heute verarmt, muss sich nicht laenger als per-
soenlich Scheiternder fuehlen - er verarmt als Teil eines
uebermaechtigen Prozesses. Damit bekommt sein Schicksal eine
historische Dimension."

Wir muessen endlich von dem Ludwig Erhard-Mythos herunter
kommen, sagte auch mein alter Professor Riese neulich zu mir.
Wir muessen die Erhard-Zeit entmythologisieren. Ich werde in
der naechsten Woche ausfuehrlicher darauf zurueckkommen.

++++++

Bernd Niquet ist Boersenkolumnist und Buchautor.

621Paul 23-03-2005 16:55

Mittwoch, den 23.03.05

Nehmen wir einmal an, in der Welt solle alles so bleiben wie es derzeit ist – und nur die USA würden ihr Leistungsbilanzdefizit und einen Überschuss wandeln. Was müsste es dann für Anpassungsmaßnahmen geben?

(1) Wenn die USA ihr Defizit im Außenhandel in einen Überschuss wandeln, dann müsste der Rest der Welt (oder nehmen wir einmal der Einfachheit halber den Zwei-Länder-Fall mit Deutschland an) seine Überschüsse in Defizite wandeln. Deutschland würde also kein Exportweltmeister mehr sein, sondern ein Waren-Importland.
(2) Um diese Importe zu finanzieren, müsste Deutschland Kredite in den USA aufnehmen, die den Usancen entsprechend Dollar-Kredite wären. Die USA wären damit ein Waren- und ein Kapitalexportland und Deutschland in beidem ein Importland.
(3) Angesichts dieser Verschiebungen würde der US-Dollar deutlich ansteigen. Für Deutschland würde dies bedeuten:
(3.1. Für die Kredite müssen Zinsen gezahlt und erwirtschaftet werden.
(3.2. Die Kreditsumme wertet sich in heimischer Währung ständig weiter auf.
(3.3. Die Terms of trade verschlechtern sich, so dass für jeden Dollar Exporterlös ständig mehr Waren produziert und geliefert werden müssen.

Ob diejenigen, die heute überall über das „unverantwortliche Verhalten“ der USA reden, sich diese Konsequenzen schon einmal klar gemacht haben? Ich denke nein, denn schließlich leben wir heute ja im Zeitalter des Impressionismus. Und da ist es einfach wirksamer, verschwommene und gefühlsselige Bilder zu malen als die Konturen der Wirklichkeit. Oder anders gesagt: Phantasie und Vorstellungskraft werden immer wichtiger als Wissen. Denn an den Märkten passiert ohne hin eher das, was die Leute glauben als das, was den Tatsachen entspricht. Jedenfalls kurz- bis mittelfristig.

berndniquet@t-online.de

621Paul 25-03-2005 10:05

25.04.2005
Gegenwärtig diskutiere ich gerade mit dem Privatgelehrten Reinhard Deutsch die Situation des Weltwährungssystems. Deutsch hat in der vorletzten Ausgabe des „Smart Investors“ geschrieben, dass alle Experimente mit nicht metallgedecktem Geld in der Vergangenheit gescheitert sind. Ich habe dem entgegen gesetzt, dass alle Experiment mit metallgedecktem Geld ebenfalls gescheitert sind. Die gesamte Diskussion findet sich bei instock.de. Ich präsentiere hier ein paar Ausschnitte:

Deutsch:

„Bernd Niquet schreibt in seinem Statement: „Alle Experimente mit metallgedecktem Geld sind in der Vergangenheit ebenfalls gescheitert“ und veräppelt damit seine Leser. Amerika hat 1971 die Verpflichtung nicht erfüllt, seine Dollars jederzeit in Gold einzulösen. Wenn jemand seine Zahlungsverpflichtung nicht erfüllt nennt man so etwas normalerweise Bankrott. Wenn ich mein Darlehen nicht zurückzahle, kann ich der Bank auch nicht erklären, es täte mir leid, ihr Geldexperiment sei halt gescheitert. Die Bank würde sich wohl ebenfalls veräppelt fühlen.“

Niquet:

„Ihr Ton ist harsch, Herr Deutsch. Ich veräppele also meine Leser. Doch ich bin ihnen nicht böse, ganz im Gegenteil, denn Sie bestätigen ganz trefflich das, was ich schon immer denke: Bei allen Auseinandersetzungen ums Gold geht es gar nicht primär um das Metall, sondern um irgendwelche tiefgreifenden Verletzungen. Ich sehe, dass wir seit dem II. Weltkrieg in der breiten Masse ein Wohlstandsniveau erreicht haben, das imposant und geschichtlich einmalig ist. Und wenn man hierzu einen Vertrag brechen musste, dann war das eine richtige Entscheidung. Wir haben auch viele andere Verträge mit der Tradition gebrochen, und das alles ist uns ziemlich gut bekommen.“

Deutsch:

„Da haben Sie die Sache mit der subjektiven Wahrnehmung sehr schön auf den Punkt lieber Herr Niquet. Sie sind also nicht verletzt, wenn man Ihnen durch Betrug und Vertragsbruch Ihre Lebensersparnisse nimmt. Etwa so, wie im Märchen vom Hans im Glück, der auch froh war, als er seinen Goldklumpen endlich los wurde. Eine solche Haltung ist vielleicht schön für Sie, aber normal ist das nicht. Nun wenden Sie ein, der Vertragsbruch sei gerechtfertigt, wenn dadurch für viele Menschen ein höheres Wohlstandsniveau erreicht würde. Aber diese Frage ist noch nicht entschieden.“

Niquet:

„Es ist doch nicht richtig, dass die Abkehr vom Metallstandard den Leuten durch Betrug und Vertragsbruch ihre Lebensersparnisse nimmt. Im Gegenteil: Die Abkehr vom Goldstandard hat erst (über den Wachstumsprozess) das Bild der ganzen Ersparnisse ermöglicht, über die wir jetzt reden. Lassen Sie es uns einmal ganz konkret auf den Punkt bringen: Stimmen Sie mir zu, dass der seit dem Krieg bei uns entstandene Wohlstand deutlich größer ist als er unter einer Goldwährung hätte entstehen können? Ja oder nein?“

Deutsch:

„Nun, die „ganzen Ersparnisse“, über die wir jetzt reden, bestehen ausschließlich aus Schulden (wenn wir Sachwerte, wie Immobilien und Aktien mal außen vor lassen). Es wurde in Schulden gespart. Geldvermögen kann heute nur noch ausschließlich in Form von Schulden aufgebaut werden. Jeder 500 Euro Schein, jede Anleihe, jeder Renten- und Pensionsanspruch, jedes Festgeldkonto und jedes Sparbuch ist ein undefinierter Schuldanspruch – ist lediglich ein Beleg, dass Ihnen irgendjemand etwas schuldet. Im Metallstandard konnten Sie Ihre Lebensersparnisse in Form von Gold sicher speichern. Gold ist keine Schuld sondern in Gramm klar definiertes Eigentum, ebenso wie ein Grundstück in Quadratmeter klar definiertes Eigentum ist. Wir können in unserem heutigen Geld nicht mehr sinnvoll sparen. Das ist eine wichtige Erkenntnis. Natürlich hat erst die Abkehr vom Goldstandard diese riesigen Geldvermögen, über die wir reden, ermöglicht. In Gold hätte niemand solche Schuldversprechungen abgeben können. Um Ihre konkrete Frage zu beantworten, ob der seit dem Krieg bei uns entstandene Wohlstand nicht deutlich größer sei als er unter einer Goldwährung hätte entstehen können, so antworte ich klar mit NEIN. Unter einer Goldwährung wäre der Wohlstand wohl deutlich größer.“

Niquet:

„Es scheint mir, als wenn wir immer weiter auf den Kern der Dinge zusteuern. Aus meiner Sicht widersprechen Sie sich in ihrem letzten Beitrag heftig. Sie schreiben einerseits, dass erst die Abkehr vom Goldstandard die riesigen Vermögen, über die wir heute reden, ermöglicht haben. Und andererseits, dass unser Wohlstand nicht größer geworden ist, sondern vielmehr unter einem Goldstandard größer gewesen wäre. Wie das? Wir haben also größere Vermögen angehäuft, sind aber weniger wohlhabend. Das ist schon ein erstaunlicher Befund.

Und was mich an ihrer Sichtweise am meisten erstaunt, ist, dass Sie anscheinend die Konsequenz ihres eigenen Denkens noch gar nicht gezogen haben: Vermögens- und Wohlstandsmehrungen sind in ihrem System nur durch Goldfunde möglich, da alles Vermögen und aller Wohlstand nur dann substanzhaltig sind, wenn sie durch Gold gedeckt sind. Doch können Sie sich im Ernst vorstellen, in einem System zu leben, in dem man sich täglich abrackert, der Wohlstand jedoch nicht von dem abhängt, was man erschafft, sondern nur von dem, was man aus dem Boden ausbuddelt? Goldpreisänderungen (Anhebungen) kann es in ihrem System ja nicht geben, da es gar keinen Goldpreis gibt, weil das Gold selbst das Geld ist und daher immer einen Preis von 1 hat. Und selbst wenn man theoretisch so etwas denken würde, dann würde eine Goldpreisanhebung ja eine Inflation bedeuten, was wiederum per definitionem ausgeschlossen ist.“

Deutsch:

„Was Sie schreiben, ist so schief, dass ich gar nicht weiß, wie ich es wieder gerade rücken soll. Ich will es trotzdem mal versuchen – also. Geld ist kein Wohlstand. Mehr Geld bedeutet nicht mehrt Wohlstand. Das ist ja der große Irrtum im aktuellen Geldsystem, dass man glaubt, man könne durch Erzeugen von zusätzlichem Geld zusätzlichen Wohlstand erzeugen. Wohlstand kann man nicht drucken. Auch durch das Ausbuddeln von zusätzlichem Gold wird kein zusätzlicher Wohlstand erzeugt. Wir haben genug Gold, um es als Geld zu nutzen. Es muss nicht ein einziges Gramm Gold zusätzlich ausgebuddelt werden. Die Geldmenge kann und sollte für immer konstant bleiben und sich nicht mehr verändern und trotzdem kann der Wohlstand ständig wachsen, nämlich durch Produktion und Sparen (Konsumverzicht). Aber sparen eben nicht in Form von Geld als Schuld, sondern in Form von Eigentum an Realkapital (Häuser, Fabriken, Maschinen, Straßen, Brücken etc.). Ich stelle fest, dass wir in diesen elementaren Dingen viel weiter auseinander sind, als ich dachte.“

Niquet:

„Also, so einfach kommen Sie aus dieser Sache jetzt nicht mehr heraus. Wer ein neues System der Wirtschaftserklärung liefern will, dessen Denken muss folgerichtig, widerspruchsfrei und in sich geschlossen sein. Das ist bei ihnen jedoch nicht der Fall. Ich werde ihnen jetzt aufzeigen, wo die Widersprüche liegen: Wohlstand entsteht für Sie durch Produktion und Konsumverzicht (Sparen). Gespart wird in Form von Eigentum an Realkapital. Und die Geldmenge bleibt konstant und ist durch Gold gedeckt. Das ist ihr Weltbild, wenn ich richtig verstehe, was Sie schreiben.

Doch das passt nicht zusammen. In einer Geldwirtschaft kann nicht in Realkapital gespart werden. Haushalte sparen nicht in Form von „... Häuser(n), Fabriken, Maschinen, Straßen, Brücken ...“, wie Sie es schreiben. Sie sparen in Geld. Doch wenn die Geldmenge an das Gold gebunden ist, dann ist sie nur durch Goldfunde oder durch Goldpreisaufwertungen ausdehnbar. Beides gibt es bei ihnen jedoch nicht – beziehungsweise kann es nicht geben. Die Geldmenge muss also konstant bleiben. Durch das angesammelte gesparte Vermögen wird jedoch immer mehr Geld in Ersparnissen gebunden, so dass die Geldmenge bald völlig durch Ersparnisse aufgebraucht ist, die nicht mehr ausgeliehen werden. Das System ist also bereits nach ein paar Runden am Ende.“


Die Antwort von Reinhard Deutsch steht hierzu noch aus. Ich bin gespannt, wie er sich aus der Schlinge windet. Ich werde Sie in der nächsten Woche dazu informieren, falls Sie nicht Lust haben, nach Ostern die Diskussion im Original mitzulesen.

Zunächst einmal wünsche ich: Ein frohes Osterfest!

berndniquet@t-online.de

621Paul 27-03-2005 15:06

27.03.05
Die Entmythologisierung von Ludwig Erhard

Von Dr. Bernd Niquet

Es ist schon erstaunlich: Selbst diejenigen, die uns oeffent-
lich immer vorbeten, dass wir uns schleunigst von den Mythen
und der Romantik der Vergangenheit verabschieden muessen,
sind fest in den Mythen und in der Romantik der Vergangenheit
verankert. Nur sind es eben andere weltfremde Idealvorstel-
lungen, die hier vertreten werden. Was allerdings nichts
daran aendert, dass anscheinend ein ganzes Land starr und
fest in der Vergangenheit gefesselt ist. Und selbst der
Bundespraesident macht keine Ausnahme, ja, er ist sogar ein
Vorreiter der Bewegung "Zurueck in eine goldene Vergangen-
heit".

Dort der Mythos der allumfassenden sozialen Sicherung. Und
hier der Mythos von Ludwig Erhard. Wir muessten uns nur wie-
der auf den Geist von Ludwig Erhard besinnen, so toent es
heute von ueberall her, dann wuerde schon alles gut werden.
Ja, mein Gott, haben wir denn alle voellig den Verstand ver-
loren?

Als Ludwig Erhard sein Regime begann, war Deutschland ein
zerstoertes Land mit Preiskontrollen und einem immensen wirt-
schaftlichen Nachholbedarf. Und was hat Erhard gemacht? Er
hat auf den Markt gesetzt und die Preise frei gegeben. Das
war es! Angebot und Nachfrage konnten sich jetzt frei entfal-
ten. Es wurde produziert auf Teufel komm raus, weil es ge-
winntraechtig und die Nachfrage grenzenlos war. Die Loehne
stiegen proportional zur Produktivitaet - und sie mussten es
auch tun, da ansonsten niemand das Angebot haette kaufen
koennen.

Zusaetzlich realisierte die Bundesbank eine Unterbewertungs-
strategie der D-Mark, indem sie die Aufwertungen nur bedingt
zuliess, fachte durch die damit verbundene expansive Geld-
politik die Wirtschaft noch weiter an - und fuehrte das
rekonvaleszente Land sukzessive vom Import- zum Exportwelt-
meister.

Was hat das nun mit dem Heute zu tun? Nichts, aber auch gar
nichts! Heute gibt es (gluecklicherweise) kein zerstoertes
Land, keinen Nachholbedarf, keine Preiskontrollen - man muss
also nicht nur oekonomisch voellig unbelesen sein, um heutzu-
tage nach Ludwig Erhard zu rufen. Das soll Erhards Taten
nicht schmaelern, sie waren grossartig, doch sie haben mit
der Gegenwart nichts zu tun. Jetzt Erhards Wirtschaftskonzept
anwenden zu wollen, waere, als ob man zum Mond fliegen und
vorher zum vor-kopernikanischen geozentrischen Weltbild zu-
rueckkehren wuerde. Wie hat Rocko Schamoni in seinem genialen
Lied "Der Mond" so schoen singen lassen: "Die Sonne geht auf
- und die Erde geht unter ..."

Die ganze Krise unserer Wirtschaft ist damit zum grossen Teil
auch eine Krise der Wirtschaftstheorie. Das ganze neoklassi-
sche Paradigma, auf dem der Liberalismus fusst, kennt naem-
lich nur eine Art von Arbeitslosigkeit - und dies sind Frik-
tionen auf dem Arbeitsmarkt. Mit der Gegenwart hat das na-
tuerlich nichts zu tun, denn laengst gibt es auf den Arbeits-
maerkten all das, was die Unternehmen immer gefordert haben:
sinkende Loehne, befristete Arbeitsverhaeltnisse, kostenlose
Praktikantenjobs ... Kein Wunder, dass alle so ratlos sind.
Sie denken in Theorien, die Arbeitslosigkeit gar nicht thema-
tisieren kann.

Keynes, der seine Werke unter dem Einfluss der Deflation und
der Depression der Dreissiger Jahre geschrieben hat, hat uns
hingegen gelehrt, dass Arbeitslosigkeit nichts mit dem Ar-
beitsmarkt zu tun hat - und dass die Investitionen der Unter-
nehmen von der Ertragserwartungen abhaengig sind, die sich
wiederum hauptsaechlich nach den erwarteten Nachfragekompo-
nenten richten. Erstaunlich, dass sich niemand bei uns damit
beschaeftigt, sondern alle nur mit ihren Erhardschen Hirnge-
spinsten im Kopf durch die Gegend lustwandeln. Vielleicht
sollten wir lieber den Osterhasen um Rat fragen.

In diesem Sinne wuensche ich ihnen ein frohes Fest!

621Paul 06-04-2005 16:46

Der Glaube beherrscht die Tatsachen

Liebe Leser, ich danke sehr herzlich für das nette Feedback zu meiner Kolumne über den Tod des Papstes von letztem Montag, den 4.4. Ich finde auch, dass es eine meiner gelungensten war – auf jeden Fall eine der moralisch ergreifendsten. Doch nun sollten wir aus dem Reich der Moral wieder in das Reich der Wirklichkeit zurückkehren. Für den Papst beinhaltet das eine gute und eine schlechte Nachricht. Die schlechte lautet: Er wird keinen Eingang in die Himmelspforte finden, weil es gar keine Himmelpforte gibt. Und die gute lautet: Das wird ihn nicht bedrücken. Er merkt davon nämlich nichts, weil er ja tot ist.

Jetzt lassen Sie das bitte einmal einen Moment stehen, liebe Leser. Gehöre ich jetzt nicht eigentlich auf den Scheiterhaufen? Lassen Sie es noch einen Moment stehen – und lassen Sie an ihrem inneren Auge vorbeiziehen, was sich derzeit in Rom abspielt. Und dann können wir sogleich an die Börse zurückkehren.

Und was sehen wir jetzt? Auch an der Börse läuft das Geschehen letztlich nicht anders ab als in der Religion. Es gibt tief verwurzelte, fast schon im Unterbewusstsein festgesetzte Glaubensinhalte, denen ein überwiegender Teil der Menschen bedingungslos huldigt. Überprüfen lassen sich diese Glaubensinhalte nicht. In der Religion nicht, weil sie im Jenseits liegen. Und an der Börse nicht, weil das menschliche Handeln nicht unabhängig vom Glauben analysiert werden kann.

Immanuel Kant hat überzeugend aufgezeigt, dass man das Dasein Gottes genauso folgerichtig beweisen kann wie den entgegengesetzten Fall, nämlich dessen Nichtexistenz. Kants Schluss daraus lautete: „Ich musste das Wissen aufheben, um für den Glauben Platz zu schaffen.“ Jahrhunderte haben wir seitdem für Demokratie und Selbstverantwortung gekämpft, doch alles sieht so aus, als ob gerade im Zeitalter der maximalen Aufgeklärtheit und der Herrschaft des vermeintlich so nüchternen Geldes die alten Prinzipien weiterhin die Herrschaft über uns behalten haben.

berndniquet@t-online.de

621Paul 08-04-2005 20:26

Ende der Diskussion

Meine Diskussion mit Reinhard Deutsch über die Zukunft des Weltwährungssystems bei instock.de ist zu Ende. Sie ist erwartungsgemäß ausgegangen wie das Hornberger Schießen: Kurz vor dem entscheidenden Schuss wurde festgestellt, dass gar kein Pulver da ist.

Man kann es fast als einen allgemeingültigen Fall betrachten: In den Bereichen menschlicher Handlungen gibt es keine Möglichkeit, Theorien an der Wirklichkeit zu überprüfen. Jeder kann alles behaupten und jeder kann an das glauben, was er will. Wer glaubt, es seien die Sterne, die die Kurse machen, wird ebenso wenig durch eine Überprüfung an der Wirklichkeit zu überzeugen sein wie derjenige, der eine Korrelation der Aktienkurse mit der Anzahl eingewachsener Zehennägeln der rechten großen Zehen ausgewachsener männlicher Mitteleuropäer im Alter von 29 bis 51 Jahren behaupten würde.

Und schafft man schon nicht die Überprüfung an der Wirklichkeit, so wird die Auseinandersetzung über Logik und Folgerichtigkeit erst recht zum Fiasko. Denn man kann es immer drehen und wenden wie man will. Im Kopf, in den Zahlen – und in den Statistiken sowieso. Die einzige Wahrheit, die es an den Märkten gibt, ist, dass es keine Wahrheit gibt. Und nicht einmal das ist eine Wahrheit.

berndniquet@t-online.de

621Paul 10-04-2005 11:30

Vom Lob des Stillstandes

Von Dr. Bernd Niquet

Ich danke sehr herzlich fuer die vielen Zuschriften, die ich
zu meinen Kolumnen der letzten Wochen zum Zustand der Wirt-
schaft und der Wirtschaftspolitik bekommen habe. Die meisten
Leser meinten, dass wichtige Punkte hier ausgespart wurden:
die ungeheure Buerokratie, die Angstmacherei bei der Gentech-
nik, die Abneigung vieler Menschen, tatsaechlich eine neue
Arbeit annehmen zu wollen, um nur einige zu nennen. Ich will
dem gar nicht widersprechen, interessant daran ist jedoch,
dass sie sich alle letztlich auf den gleichen Punkt beziehen.

Und dieser Punkt ist das herrschende neoklassische oder neo-
liberale Denken, das sich mittlerweile anscheinend so fest
eingegraben hat in unser Denken, dass es von kaum jemandem
mehr hinterfragt wird. Neoklassik und Neoliberalismus behaup-
ten:

(1) Der Markt wird alles richten. (Bei freien Maerkten und
flexiblen Preisen findet jeder eine Beschaeftigung und
jedes Produkt einen Abnehmer.)

(2) Wenn etwas nicht funktioniert, muss es daran liegen,
dass der Markt in seiner Aufgabe behindert wird.

(3) Arbeitslosigkeit hat also stets ihre Gruende in Markt-
behinderungen und daraus folgenden Marktineffizienzen.

Konkret: An der Arbeitslosigkeit sind schuld: starre Tarif-
vertraege, nach unten inflexible Loehne, teure Lohnneben-
kosten, zu hohe Sozialhilfesaetze, Immobilitaet, Drueckeber-
gertum - also alles Dinge, die das freie Walten der Maerkte
behindert. Folglich muss hier angesetzt werden, so die herr-
schende Lehre. Dem Markt muss zum vollen Durchbruch verholfen
werden. Hartz IV ist ein Paradebeispiel dieses Denkens.

Wir muessen also reformieren, reformieren, reformieren - und
dann werden wir aus der Talsohle schon wieder heraus kommen.
Doch ist das eigentlich wirklich wahr? Liegen wir hier nicht
vielleicht einem Zerrbild auf? Kann es nicht sein, dass der
Markt es gar nicht schafft, alles zu richten? Dass wir mit
dem Makel von Unterbeschaeftigung und Unterauslastung auch
weiterhin werden leben muessen? Und dass das zwar unbefriedi-
gend ist, aber immer noch besser, als wenn man jetzt ein gan-
zes Land durch den Fleischwolf dreht?

In der oeffentlichen Diskussion werden Idealvorstellungen
produziert, die fast schon etwas Religioeses an sich haben.
Die Reformwut zeigt durchaus Aehnlichkeiten mit der Spekula-
tionswut am Neuen Markt vor einigen Jahren. Ob das Resultat
letztlich vielleicht das Gleiche sein wird? Was wuerde denn
passieren, wenn wir ploetzlich alle arbeitsrechtlichen Rege-
lungen streichen, die Buerokraten rausschmeissen, alle Inves-
titionen sofort genehmigen, Tarifvertraege abschaffen? Es
gaebe sicherlich sofort eine neue Gruenderzeit - und an-
schliessend eine grosse Gruenderkrise. Und dann? Dann koennen
wir unsere Demokratie wahrscheinlich gleich irgendwelchen
Extremisten uebereignen.

Nein, nein, ich habe hier ein ganz anderes Bild. Natuerlich
ist vieles hierzulande ein Aergernis. Doch die Unbeweglich-
keit hat auch ihr Gutes. Gerade dass bei uns vieles nicht
geht, macht unser Land so erfolgreich. Etwas pointiert aus-
gedrueckt: In einem in vieler Hinsicht unbeweglichen Sozial-
wesen, findet jedes Toepfchen irgendwie sein Deckelchen, auch
wenn das vielleicht nicht unbedingt geil, schrill oder bunt
ist. In einer voellig freien Gesellschaft hingegen finden
viele Toepfchen gleich mehrere blitzend-glaenzende Deckel-
chen. Wie das jedoch insgesamt aufgehen soll, das weiss kei-
ner so recht. Da bleibt allein der Glaube an die Kraft der
Religion. Ein schoenes Begraebnis wuensche ich! "A nette
Leich'", wie der Wiener sagt, haben wir ja (fast) schon.


++++++

Bernd Niquet ist Boersenkolumnist und Buchautor.

621Paul 11-04-2005 14:36

Montag, den 11.04.05

Haben wir eigentlich überhaupt eine Chance, die Börse zu begreifen? Etwas verstehen oder begreifen zu können, setzt immer entweder das physische Anfassen (Be-Greifen) voraus – oder zumindest einen passenden Fundus von Begriffen.

Ich denke, dass wir schon bei den Grundbegriffen „Geld“, „Kredit“ und „Defizit“ so gründlich scheitern, dass wir uns jede weitere Diskussion über die Börse eigentlich ersparen können. Jeder versteht unter allem etwas anderes – so dass alle auf ewig aneinander vorbei säuseln. Aber letztlich ist das ja gut so, schließlich funktioniert die Börse nur dann, wenn es – trotz Konstanz und Identität aller Daten – unterschiedliche Meinungen gibt.

Über Geld oder Defizite möchte ich heute nicht reden. Am Wochenende sind mir zwei andere Begriffe aufgefallen: Globalisierung und Wildkirsche. Haben Sie schon einmal einen kirschparfümierten Tee getrunken? Erstaunlich, dass alle diese Teesorten, so künstlich sie auch immer sind, „Wildkirsche“ heißen. Weiß eigentlich überhaupt jemand, was eine Wildkirsche ist? Hat schon mal jemand so etwas gesehen oder angefasst? Ich nicht. Ich kenne nur zahme Kirschen. Wahrscheinlich ist eine Wildkirsche also genau das Gleiche wie ein Leistungsbilanzdefizit. Das kennen alle auch nur vom Hörensagen und niemand weiß so genau, was sich dahinter verbirgt und welche Auswirkungen es hat.

Dass wir in einer „globalisierten Welt“ leben, ist auch eine lustige Geschichte. „Global“ bedeutet, „auf die ganze Welt bezogen“. Und „globalisiert“? „Liberal“ ist „freiheitlich“ und „liberalisiert“ bezeichnet den Prozess, der dahin führt. Also bedeutet „globalisiert“ zu bewirken, dass die Welt sich auf sich selbst bezieht. In einer „globalisierten Welt“ zu leben heißt also in einer Welt zu leben, die darauf hingeführt wird, sich auf sich selbst zu beziehen.

Das klingt irgendwie nach dem Versuch von Schizophrenen, sich Auseinandergefallenes wieder zusammenzubasteln. So als ob die Welt nicht mehr mit sich selbst identisch war – und jetzt dorthin geprügelt werden muss. Vielleicht ist das ja auch – trotz aller Paradoxie – die richtige Erklärung. Der ums sich greifenden Schizophrenierung muss mit allen Mitteln entgegengewirkt werden. Wie unsinnig die Mittel dazu auch immer sein mögen. Der Papst hat uns das ja vorgelebt – und die Pilger leben es nach. Wir brauchen wieder ein stimmiges Weltbild!

berndniquet@t-online.de

621Paul 15-04-2005 13:45

15.04.05
Am Dienstag fand sich in der Financial Times Deutschland ein Artikel des Kolumnisten Lucas Zeise mit dem Titel „Der wahrscheinliche Crash“. Zeise behauptet hier, dass es demnächst wahrscheinlich einen Crash an den Märkten geben wird. Seine Argumentation lautet:

„Wenn sich zu viel Geld im Umlauf befindet, gibt es grundsätzlich zwei Lösungen, wie es neutralisiert wird. Das eine ist die Inflation der Güterpreise ... Die andere Möglichkeit ist die Deflation der Asset-Preise. Das in Wertpapieren und Immobilien gebundene Geld würde einfach dahinschmelzen oder entwertet. Ein solcher Crash scheint heute die viel wahrscheinlichere Variante zu sein.“

Machen wir einen kurzen Grundkurs. Geld kommt dadurch in Umlauf, indem Zentralbanken Aktiva dauerhaft ankaufen oder auf Zeit in Pension nehmen – und dafür Geld emittieren. Spiegelbildlich kann daher, wenn „zu viel Geld in Umlauf“ ist, dieses Geld auch nur dadurch wieder aus dem Kreislauf hinaus gelangen, indem die Zentralbank das genaue Gegenteil des eben Beschrieben macht. Das Geld verschwindet aus dem Umlauf, wenn die Zentralbank Assets verkauft oder die Pensionsgeschäft zurückführt. So einfach kann das manchmal sein.

Doch wie kommt Zeise nun auf seine abweichende Sichtweise, die dadurch noch umso bizarrer ist, indem er behauptet, dass das „zu viele Geld“, was immer das sein mag, sowohl durch Inflation (der Güterpreise) als auch durch Deflation (der Assetpreise) beseitigt werden kann. Eines von beidem geht ja wohl nur. Zeise kommt darauf, weil er verwechselt, dass Assets in Geld bewertet werden, selbst jedoch kein Geld sind. Ich weiß, dass das schwer zu begreifen ist, schließlich habe ich lange genug an der Uni unterrichtet. Vermögensdeflationen schaffen kein Geld aus der Welt – und Vermögensinflationen bringen kein Geld in die Welt. Sie sind Änderungen der Vermögenspreise und haben mit dem Geldumlauf nichts zu tun. Und für die Bewertung von Vermögen gibt es tausend verschiedene Parameter – von den das Verhalten der Zentralbank nur einer von vielen ist. Geld selbst kommt nur durch Mitwirkung der Zentralbank in Umlauf und auch aus diesem wieder heraus. Keinesfalls jedoch durch die Veränderung der Vermögenspreise.

Den von Zeise geschilderten „wahrscheinlichen Crash“ gibt es also nicht. Er ist ein Hirngespinst, das aus grober Unkenntnis der Funktionsweise einer Geldwirtschaft resultiert. Gleichrangig könnte man auch behaupten, mit der Zufuhr von Vitamin C eine Börsenhausse auszulösen.

berndniquet@t-online.de

621Paul 18-04-2005 13:54

18.04.2005
und Blindgänger in den Chefetagen

Der SPD-Vorsitzende hat ganz schön auf den Putz gehauen. Natürlich ist das Wahlkampftaktik. Doch ich glaube, jeder reflektierte Mensch wird sehen, dass Müntefering mit seinen Thesen nicht völlig daneben liegt. Wir Börsianer wissen sicherlich viel zu gut, dass wir wie Heuschreckenschwärme über Unternehmen und ganze Volkswirtschaften herfallen, unsere Ernte einfahren und hinterher wieder abziehen. Niemand von uns wird behaupten können, dass Müntefering hier nicht Recht hat mit seiner Analyse.

Die Frage ist nur, ob es eine Alternative zum gegenwärtigen Stand der Dinge gibt. Merkwürdigerweise wird diese Frage in den Medien nicht einmal andiskutiert. Es werden überall schwere Geschütze aufgefahren und der Gegner mit Glaubensbekenntnissen bombardiert. Was der Chefredakteur der „Welt am Sonntag“ hierzu geschrieben hat, ist ein Paradebeispiel dafür. Er zeigt sehr deutlich, dass unsere Medien-Elite nichts taugt.

Keese wirft Müntefering vor, zum Klassenkampf zurückkehren zu wollen und zum Antikapitalismus aufzurufen. Müntefering hat den völligen Laissez-faire-Kapitalismus kritisiert, doch Derartiges habe ich nicht aus seinen Äußerungen heraus gelesen. Wer sich mit Freud beschäftigt hat, erkennt im ausschließlichen Denken in Extremen ein neurotisches Phänomen, eine Unreflektiertheit, die einen realistischen Blick auf die Realität verstellt.

Keeses ganzer Kommentar erinnert mich an den Nachbarjungen, der brav beim Essen sitzt und das Einzige, was von ihm zu hören ist, ist „Ja Pappi, du hast Recht!“ An der freien Marktwirtschaft, so führt Keese anhand von acht Thesen aus, ist alles gut und richtig. Eine Kritik daran darf es folglich nicht geben. Ja Pappi, du hast Recht! So ein Maß an Unterwürfigkeit hätte ich in den Chefetagen nicht vermutet. Und so viel Unreflektiertheit auch nicht. Denn es ist schon rein logisch völlig unmöglich, dass ein System nur Gutes beinhaltet und die Kritik daran nur Schlechtes. Wer so etwas behauptet, ist genauso totalitär wie sein Pendant auf Seiten des Kommunismus.

Und wo bleibt eigentlich das Demokratieverständnis? 70 Prozent der Deutschen, zitiert Keese eine Forsa-Umfrage, glauben, dass der Kapitalismus außer Kontrolle gerät, wenn der Staat ihn nicht bändigt. Zählt das etwa nicht? Leben wir nicht in einer Demokratie? Nein, natürlich nicht, denn Pappi hat immer Recht. Und jeder Widerspruch ist verboten.

Ich hoffe inständig, dass es in den Führungsetagen auch innergesteuerte Menschen gibt, die sich eine eigene Meinung gebildet haben, die sich von den Dogmen befreit haben und nicht mehr gebetsmühlenartig das nachbeten müssen, was Pappi ihnen gesagt hat.

Es hat aber auch sein Lustiges. „Es ist menschlich, Geldgebern einen fairen Zins für ihr riskiertes Kapital zu gewähren“, schreibt Keese. Ist es etwa unmenschlich, das nicht zu tun? „15 Prozent nach Steuern auf das Eigenkapital wie die Deutsche Bank das anstrebt, sind angemessen, denn das hohe Risiko einer Aktie muss mit höherem Zins entgegolten werden als das niedrige Risiko eine sicheren Staatsanleihe.“ Ein Glück, dass wir jetzt jemanden haben, der das beurteilen kann.

Und: „Menschlich ist es auch, Geld zu investieren, denn das schafft Arbeitsplätze.“ An dieser Stelle muss ich jedoch alles Vorherige sofort zurücknehmen. Denn eine schärfere Kritik an den Unternehmen habe ich noch niemals vorher gehört. Nicht zu investieren, ist also unmenschlich. Das ist wirklich starker Tobak. Schade nur, dass diese Erkenntnis ausschließlich im Zuge einer Freudschen Fehlleistung das Licht der Welt erblickt hat.

berndniquet@t-online.de

621Paul 20-04-2005 14:06

20.04.2005
Na bitte, der deutsche Papst bekommt den deutschen Aktien ja durchaus gut. Die Abwärtsbewegung ist vorerst gestoppt. Am 11. Februar habe ich an dieser Stelle geschrieben, die Märkte könnten „...noch bis weit ins Frühjahr hinein sehr gut laufen – und zwar sowohl der Bond- als auch der Aktienmarkt. Doch anschließend könnte es kritisch werden. „Sell in may and go away“ mag daher die richtige Strategie für das Jahr 2005 sein.“

Das war natürlich wie immer falsch, jedoch nicht völlig, denn der Bondmarkt hat sich – entgegen allen Erwartungen – gut gehalten, und auch der Aktienmarkt hat seitdem nur marginal verloren. Ist der Zug also gegenüber der obigen Prognose etwas zu früh abgefahren und die Aufwärtsbewegung zu gering ausgefallen? Oder gibt es jetzt ein völlig neues Szenario?

Mir scheint der Pessimismus so hoch zu sein, dass es weiterhin lukrativ ist, investiert zu bleiben. Zwei schlechte Börsentage, mehr ist ja nicht passiert. Und: Wie der Pessimismus wirkt, sieht man am Ölpreis. Dieser kommt herunter, doch das wird nicht positiv gedeutet, sondern eben negativ, weil die Nachfrage zu gering und die wirtschaftliche Verfassung damit schlecht sei. Als ob Spekulationsblasen etwas mit der Realität zu tun hätten ...

Lustig finde ich in derartigen Zeiten immer die Marktkommentare. Die Anleger verabschieden sich aus den Aktien, heißt es dann, sie schichten ihre Anlagen von den Aktien in die Bonds um. Das muss man sehr ernst nehmen, schließlich bedeutet das, dass viel mehr Aktien verkauft als gekauft werden. Sie liegen also irgendwo herum und man muss aufpassen, dass man nicht darüber stolpert.

Es ist also nicht nur der Heuschnupfen, der uns gegenwärtig bedroht, sondern auch die überall herumfliegenden Aktien. Dass man sie jedoch nicht sieht? Es gibt so viele Sachen, die man nicht sehen kann und die es trotzdem gibt. Wie die ganzen Pupse, die die Redakteure lassen, wenn sie ihre Marktberichte verfassen. Und wie die Angst, die dadurch überall erzeugt wird.

berndniquet@t-online.de

621Paul 22-04-2005 14:19

Freitag, den 22.04.05
Der Markt fürchtet sich

Ein Mann kommt zum Arzt: „Herr Doktor, mir geht es so schlecht. Ich habe bestimmt viel zu hohen Blutdruck:“ Der Arzt schaut ihn an. „Sie scheinen mir eher einen zu niedrigen Blutdruck zu haben.“
„Ist ja auch egal“, antwortet der Mann, „Hauptsache es erklärt, dass ich mich so schlecht fühle.“

Der Markt fürchtet, dass die Zinsen weiter steigen. Der Markt fürchtet, dass die Konjunktur weiter schwächelt. Der Markt fürchtet, dass wir in den USA Inflation haben. Der Markt fürchtet, dass wir in Europa Deflation haben. Der Markt fürchtet, dass die Aufweichung des Stabilitätspaktes negative Auswirkungen hat. Der Markt fürchtet die Diskussion um Mindestlöhne und die Abgrenzung des Arbeitsmarktes. Die Marktteilnehmer fürchten, dass die Kurse weiter sinken werden. Die Marktteilnehmer fürchten, dass auch die guten Unternehmensgewinne daran nichts ändern. Die Marktteilnehmer fürchten, dass auch ein sinkender Ölpreis das negative Szenario nicht tangiert.

Am meisten fürchten sich die Marktteilnehmer vor ihrer eigenen Furcht. Und ich fürchte, es ist immer der Ausgangspunkt der Suche, der bereits festlegt, was letztlich gefunden werden kann. Ich fürchte, wer Furcht sucht, wird auch Furcht finden. Das ist das Fürchterliche an der fürchterlichen gegenwärtigen Marktsituation. Doch wenn das Fürchterliche dann wieder vorbei ist, werden die sich Fürchtenden erst recht das Fürchten lernen. Es ist schon eine fürchterliche Welt, in der wir leben. So fürchterlich hoffnungslos. So hoffnungslos, dass das einzig Sichere die Furcht zu sein scheint. Doch nicht einmal das ist sicher. Ist das nicht fürchterlich?

berndniquet@t-online.de



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621Paul 30-04-2005 15:51

24.04.05

Mehr Beschaeftigung nur ueber Wachstum?

Von Dr. Bernd Niquet

Ein Dogma beherrscht unsere Gesellschaft. Es ist so fest ein-
zementiert, dass es sogar die kirchlichen Dogmen hinter sich
laesst. Dieses Dogma lautet: Neue Arbeitsplaetze gibt es nur
ueber Wachstum. Das klingt natuerlich auf den ersten Blick
sehr plausibel. Ein Mehr an Arbeitsplaetzen kann nur aus ei-
nem Mehr an Sozialprodukt entstehen. Wenn man mehr Wasser im
Teekessel haben moechte, dann muss man den Wasserhahn erneut
aufdrehen. Es gibt nach einer dunklen Nacht erst dann wieder
Helligkeit, wenn die Sonne morgens aufgegangen ist.

Der letzte Satz zeigt, wie falsch auch die auf den ersten
Blick einleuchtendste Weisheit sein kann. Denn die Sonne geht
nicht auf, sie ist der Fixpunkt unseres Universums. Wer also
ueber das Auf- und Untergehen der Sonne redet, der redet
theoriefern, der redet fuer Kinder, der redet in der Alltags-
sprache, die zwar trefflich fuer den Alltag geeignet ist,
aber spaetestens dann scheitern muss, wenn es gilt, eine
wirklich entscheidende Frage wissenschaftlich zu loesen.

Und genauso ist es mit der Arbeitslosigkeit. Das ist eine
wirklich wichtige Frage. Und wie wird darueber geredet? Ich
habe keine Patentloesung anzubieten; ich mache nur eine kurze
Bestandsaufnahme. Und diese zeigt: Es gibt keine einzige
Wirtschaftstheorie, die die Beschaeftigungsfrage mit Wachstum
verknuepft. Das muss man sich erst einmal auf der Zunge zer-
gehen lassen. Daher noch einmal:

Es gibt keine einzige Wirtschaftstheorie, die die Beschaefti-
gungsfrage mit Wachstum verknuepft. Alle Wirtschaftstheorien,
die den Weg von der Unterbeschaeftigungssituation zur Vollbe-
schaeftigungssituation thematisieren, sind statische Theori-
en. Das heisst: Das Thema Arbeitslosigkeit sowie das Thema
der Verbesserung dieser Situation wird dadurch analysiert,
indem statische Situation miteinander verglichen werden, in-
dem "Maengel" aufgedeckt und Beseitigungsprozesse simuliert
werden. Doch Wachstum hat mit allem nichts, aber auch gar
nicht zu tun.

(Der Vollstaendigkeit halber sei angefuegt: Sobald diese
Theorien dynamisiert werden, um Wachstumsprozesse zu analy-
sieren, setzt man jedoch das, was eigentlich gezeigt werden
soll, naemlich dass es Vollbeschaeftigung geben kann, (durch
die Annahme einer gegebenen Ressourcenmenge) immer bereits
voraus. Doch wenn ich Vollbeschaeftigung voraussetze, dann
kann ich keine Unterbeschaeftigung analysieren. Das ist si-
cherlich leicht einzusehen.)

Das heisst: Unsere gesamte oeffentliche - wie wissenschaft-
liche - Diskussion ueber das zentrale Problem unserer Volks-
wirtschaften geschieht im voellig theoriefreien Raum. Das
weist einerseits auf eine kolossale Unwissenheit der oeffent-
lichen Meinungstraeger und andererseits auf eine voellige
Degenerierung der Scientific Community. Warum ist das so?
Weil es entsetzlich schwierig ist, die Grundlagen des wirt-
schaftswissenschaftlichen Denkens klar herauszuarbeiten. Weil
es moeglicherweise keine positive Theorie gibt, die einen Weg
zum Abbau der Arbeitslosigkeit aufzeigt. Und weil es letzt-
lich viel einfacher ist, die eigenen Interessen durchzusetzen
als die Dinge gegeneinander abzuwaegen.

Dabei ist jeder Zugang zur Wirtschaft, jede einzige wirt-
schaftliche Erkenntnis, stets nur durch den Blick einer theo-
retischen Brille moeglich. Wir alle haben diese Brillen auf,
doch gleichzeitig bestreiten wir alle in nicht zu uebertref-
fender Heftigkeit, eben keine Brille aufzuhaben, sondern der
Wirklichkeit direkt ins Auge zu sehen. Dies ist einerseits
ein ernuechternder Befund, andererseits jedoch vielleicht
auch gar nicht so schlecht. Mein akademischer Lehrer, Hajo
Riese, sagt an dieser Stelle immer: Der Unterschied zwischen
Sozialismus und Kapitalismus ist, dass letzterer auch ohne
die Einsicht der Wissenschaft funktioniert. Oder anders for-
muliert: Dem Markt ist es egal, was man ueber ihn denkt. Er
funktioniert voellig unabhaengig davon.

Und ich bin geneigt, darauf noch einen draufzusetzen: Viel-
leicht ist eine gewisse Unfaehigkeit, den Markt zu verstehen,
sogar ein wichtiges Systembestandteil jeder Marktwirtschaft.
Denn wenn die einen nicht daemlich waeren, dann koennten die
anderen keine ueberdurchschnittlichen Gewinne erwirtschaften.
Die wirkliche Tragik liegt also wie immer bei allen Marktge-
schichten in der Verteilungsfrage.


++++++

Bernd Niquet ist Boersenkolumnist und Buchautor.

621Paul 01-05-2005 11:51

Deutschland - gefangen zwischen Ideal und Untergang

Von Dr. Bernd Niquet

In dieser Woche haben die Wirtschaftsforschungsinstitute ihr
Fruehjahrsgutachten vorgelegt. Ich war bei der Praesentation
dabei - und habe ganz genau hingehoert. Denn die Argumenta-
tion der Wissenschaftler ist wirklich interessant.

Deutschland befindet sich nicht in einer konjunkturellen
Krise, sagen die Forscher. Es gibt auch keinen Strukturbruch
bei den Investitionen. Wir haben einfach ein Wachstumsprob-
lem. Das Trendwachstum in Deutschland liegt bereits seit An-
fang der 90er Jahre zu niedrig.

Heraus kommen wir da nur, so die Institute, wenn die Reformen
weiter gehen, wenn wir die Wachstumskraefte staerken, der
Staatshaushalt konsolidiert und die Staatsquote gesenkt wird.
Doch wie soll das funktionieren? muss man jetzt fragen. Ers-
tens reformieren wir bereits seit etlichen Jahren wie zu
Luthers besten Zeiten. Und zweitens, wenn jetzt auch noch der
Staatsverbrauch zurueckgeht, wer soll dann ueberhaupt noch
als Nachfrager auftreten?

An dieser Stelle muss ich noch einmal auf das theoretische
Weltverstaendnis der herrschenden Lehre der Wirtschafts-
wissenschaft eingehen. Zum letzten Mal fuer einige Zeit, ich
verspreche es. Doch es ist wirklich so wichtig.

Bei voellig flexiblen Preisen und vollkommenen Maerkten
herrscht - bis auf eine gewisse Sucharbeitslosigkeit - ten-
denziell stets annaehernd Vollbeschaeftigung, so das Weltbild
unserer herrschenden Lehre. Denn jede Veraenderung wird durch
Preisanpassungen sofort korrigiert. Gehen Produktion und Be-
schaeftigung temporaer zurueck, dann sinken die Preise und
die Nominal-Loehne, womit der Realwert des Einkommens und da-
mit auch die Nachfrage stabil bleiben. Und letztlich ist
nichts passiert; der Markt hat alles wieder korrigiert und
angepasst.

Abweichungen von diesen Anpassungsmassnahmen kann es nach
dieser Sichtweise nur dann geben, wenn die Maerkte nicht
richtig funktionieren - sprich: Wenn die Preise und Loehne
nicht flexibel genug reagieren. Aus diesem Grund - UND GENAU
AUS DIESEM GRUND - wird heute ein Reformprogramm nach dem an-
deren eingefordert. Sobald nur alle genug flexibel sind, wird
sich alles zum Guten wenden, erzaehlen uns die Politik, die
Wissenschaft und die Unternehmerverbaende an jedem Tag stets
von neuem.

Was allerdings kaum jemand dabei thematisiert, ist, dass hier
auch das Geld, die Zeit und die Erwartungen eine Rolle spie-
len. In Zeiten grosser Unsicherheit und negativer Zukunfts-
erwartungen wird Geld gehortet - bei den Haushalten in Form
von Nichtkonsum und bei den Unternehmen als nicht investierte
Gewinne. Gewinne, die an den Kapitalmaerkten angelegt, ins
Ausland verschoben oder sonst wo gebunkert werden. Und ein
Angstsparen bei den Haushalten, das genau die gleiche Wirkung
hat.

Die Nachfrage faellt aus, und die Reformprogramme machen aus
der kleinen Krise recht bald eine grosse Krise. Ein ganzes
Volk dreht sich selbst durch den Fleischwolf. Und uebrig
bleiben lauter Schnitzel, von denen die einen nur noch den
Untergang sehen - und die anderen ebenso zwanghaft am selbst-
konstruierten Ideal der Selbstheilungskraefte des Marktes
festhalten. Und wenn das eben nicht funktioniert, dann ist
keineswegs die Theorie schuld, sondern dann muessen dem Markt
nur erst recht Beine gemacht werden.


++++++

Bernd Niquet ist Boersenkolumnist und Buchautor.

621Paul 08-05-2005 12:37

Sonntag, der 8. Mai. 2005
Die entscheidende Unterscheidung

Von Dr. Bernd Niquet

Deutschland zerfleischt sich derzeit in einer Diskussion
ueber unser Wirtschafts- und Finanzmarktsystem. Ich habe den
Eindruck, dass hier vieles durcheinander geworfen wird. Ich
denke, die entscheidende Unterscheidung, die zu treffen ist,
muss die zwischen Unternehmern und Kapitalanbietern sein.
Letztere nenne ich in Tradition der Berliner Schule der Geld-
wirtschaft am liebsten "Vermoegensbesitzer".

Die Vermoegensbesitzer sind die Eigentuemer oder Verwalter
aller angesparten Vermoegen. Ihr Ziel ist es, weltweit anzu-
legen und dadurch eine Vermoegenssicherung und Vermoegens-
mehrung zu erzielen. Sie sind diejenigen, die die Bedingungen
setzen nach denen ein Engagement entweder lukrativ oder das
eben nicht ist. Sie sind diejenigen, die die Renditeanforde-
rungen stellen. Sie sind die Maechtigen. Sie sind die Bestim-
mer. Sie sind die Treiber der Meute.

Die Unternehmer sind hingegen eher arme Schweine. Sie sind
die Getriebenen. Sie brauchen das Kapital. Sie sind Kapital-
nachfrager. Und um das Kapital zu bekommen, muessen sie Leis-
tung zeigen. Wenn sie Arbeitsplaetze abbauen und/oder die
Rendite erhoehen, dann machen sie dies nicht, weil sie es
wollen, sondern weil sie es muessen, um wirtschaftlich ueber-
leben zu koennen. Weil die Bestimmer ihnen sonst das Kapital
entziehen, sie aufkaufen oder ansonsten durch den Fleischwolf
drehen.

Die Reizfigur Josef Ackermann, an deren Verhalten sich letzt-
lich die ganze Debatte entzuendet hat, ist aus dieser Sicht-
weise sicherlich eher ein Getriebener als ein Treiber. Er
ist, pointiert ausgedrueckt, eher ein Opfer als ein Taeter.
Dass die Deutsche Bank eine derartig hohe Rendite erwirt-
schaften muss, hat weniger mit den nationalen Unternehmens-
bedingungen zu tun als mit den weltweit liberalisierten
Finanzmaerkten. Schafft es Ackermann nicht, die Rendite zu
steigern, dann wird dem Unternehmen zuerst das Kapital entzo-
gen und der Aktienkurs in den Keller getrieben. Anschliessend
wird es dann aufgekauft und verliert seine Selbstaendigkeit.
Und ob damit den Arbeitnehmern der Deutschen Bank geholfen
ist, das sollten alle Ackermann-Kritiker durchaus einmal ganz
genau bedenken.

Die wirklichen Verursacher der gegenwaertigen Krise - also
sozusagen "die Schuldigen" - sind daher keinesfalls die Un-
ternehmen. Und schon gar nicht die vielen kleinen und mit-
telstaendigen Unternehmer in unserem Land. Sie muessen viel-
mehr knueppeln und buckeln, um im dem ungeheuren Konkurrenz-
kampf bestehen zu koennen.

Das wirkliche Problem liegt in den voellig liberalisierten
Finanzmaerkten. Die voellige Freiheit aller Kapitalbewegungen
treibt nicht nur die Nationalstaaten in einen gnadenlosen
Konkurrenzwettbewerb um Niedrigsteuern, sondern eben auch die
Unternehmen in eine Spirale aus immer niedrigeren Kosten und
immer hoeherer Rendite. Sie alle werden ausgepresst wie die
Zitronen (um einmal einen pflanzlichen und keinen tierischen
Vergleich zu bringen). Und wenn der Saft versiegt ist - dann
tschuess. Hopp uff, abgespritzt - und ab zur naechsten.

In all dem gibt es natuerlich Unschaerfen. Es gibt Unterneh-
mer, die ausschliesslich mit Eigenkapital arbeiten, und es
gibt Vermoegensbesitzer, die selbst zu Unternehmern werden -
wie beispielsweise die Private-Equity-Gesellschaften. Sie je-
doch alleine an den Pranger zu stellen, ist unfair und
falsch. Das wirkliche Problem liegt woanders. Und es ist
nicht nationalstaatlich, sondern nur international zu loesen.
Das ist das Schlimme, und das macht es fast unloesbar -
momentan jedenfalls.

Wir brauchen in Europa dringend eine in allen Staaten iden-
tische Steuerlast. Und wir werden auch nicht umhin kommen,
die internationalen Kapitalbewegungen auf irgendeine Art wie-
der einzufangen und zu kontrollieren. Das ist meine feste
Ueberzeugung. Das klingt natuerlich nach den Rezepten von
Gestern. Doch nicht alles, was neu ist, ist auch gut. Der
Neoliberalismus hat den Zauberbesen befreit. Und derzeit
erleben wir voellig machtlos, wie er uns alle heftig ab-
buerstet.


++++++

Bernd Niquet ist Boersenkolumnist und Buchautor.

621Paul 15-05-2005 13:02

Pfingsten, den 15.05.2005
Sich taeglich in den Staub werfen

Von Dr. Bernd Niquet

60 Jahre ist das Ende des Zweiten Weltkriegs her. Die Wunden
sind noch nicht verheilt. Es kann keinen Schlussstrich geben.
Es ist richtig, denke ich, dass wir Deutschen den Kopf senken
und demuetig bleiben.

Betrachtet man unser Wirtschaftsleben moeglichst unvoreinge-
nommen, dann sieht man hier erstaunlicherweise ganz aehnliche
Mechanismen. Mir faellt das ganz besonders auf, wenn ich den
Chefredakteur der Welt am Sonntag lese. Und die Dame, die an
jedem zweiten Montag ihren Kommentar in der Financial Times
Deutschland abgibt. Oder die Lobbyisten der Industrie und der
Kapitaleigner: Hier werfen sich Menschen vor aller Augen
staendig in den Staub. Wenn wir nicht machen, was die Inves-
toren wollen, sagen sie uns, dann wird es bald aus sein mit
uns.

Jetzt haben wir einen deutschen Papst und es ist spannend, ob
das hierzulande zu einem verstaerkten Zulauf zu den Kirchen
fuehrt. Haben wir eine neue Religiositaet zu erwarten?

Alles sieht danach aus, als ob das, was wir gemeinhin als
"Kapitalismus" bezeichnen, zur neuen Religion geworden ist.
Die Gleichheit des Denkens ist jedenfalls ins Auge springend:
Das Dasein und die guetige Regentschaft Gottes laesst sich
nicht beweisen. Man kann nur daran glauben - oder eben nicht.
Ein Aufbegehren gegen Gott wird jedoch unter die groesst-
moegliche Strafe gestellt. Es wird zwar Kreativitaet und
Eigensinn gefordert, doch nur in dem Rahmen, sich selbst-
staendig zu Gott zu bekennen. Ansonsten wird voellige Demut
gefordert. Wir sollen zu Kreuze kriechen, uns in den Staub
werfen und allen eigenstaendigen Gedanken abschwoeren. Wir
sollen keine anderen Goetter haben neben dem einzigen und
wirklichen Gott.

Es ist die Erkenntnis, die uns aus dem Paradies vertreiben
hat. In diesem und in jenem Falle. Deswegen sind wir Busse
schuldig. Das ganze Leben muessen wir Abbitte leisten. Das
ganze Leben ist eine grosse Prozession. Es reicht jedoch
nicht, sich selbst zu kasteien, nein, wir muessen bei unserer
Prozession mit der Zunge den Boden ablecken, um den Vertre-
tern Gottes in unserem Land einen wuerdigen Empfang zu bie-
ten.

Und wir muessen aufblicken zu den selbsternannten Maertyrern,
die sich, wie die Obengenannten, frisch aus dem Staub gekro-
chen, oeffentlich ans Kreuz schlagen, um fuer uns alle das
Leiden auf sich zu nehmen. Sie sind die wirklichen Helden un-
serer Zeit. Ihr Glaube ist so stark und so ueberirdisch, dass
er von keiner Logik dieser kleinen Welt erreicht werden kann.
Und sie predigen die Unterwerfung, doch schaffen es genau da-
durch, sich ueber die anderen zu erheben.

Sie haengen am Kreuz und halten uns ihre Predigt. Das ist
auch gut und richtig so. Denn von der selbstbewussten und
freien Politikerkaste wollen wir uns doch alle schon laengst
nichts mehr sagen lassen.

In diesem Sinne wuensche ich ein schoenes Pfingstfest. Welche
religioese Bedeutung hat eigentlich Pfingsten? Ich habe gera-
de einmal nachgeschlagen: Pfingsten gilt als Fest der Herab-
sendung des Heiligen Geistes. Besser kann man die aktuelle
Gegenwart in unserem Land sicherlich nicht beschreiben.

In diesem Sinne wuensche ich ein schoenes Pfingstfest. Und:
Ducken Sie sich, damit Sie nicht allzu viel abbekommen!


++++++

Bernd Niquet ist Boersenkolumnist und Buchautor.

621Paul 17-05-2005 16:03

Die Irrtümer der Börsianer
10:23 17.05.05






Eine Beobachtung hat sich bei mir derart verfestigt, dass ich heute einmal darüber schreiben muss. Es hat zwar direkt mit der Börse nichts zu tun, ist aber ein Paradebeispiel für die Fallstricke, über die die Börsianer gemeinhin so gerne stolpern.



Wenn ich Kinder irgendwo mit nur einem Elternteil sehe, dann sind es fast immer Töchter mit Vätern und Mütter mit Söhnen. Man kann daraus also folgende Gesetzmäßigkeit aufstellen, die – jedenfalls in meiner Untersuchung – empirisch eine gute Bestätigung erlangt: „Mütter haben immer Söhne – und Väter haben immer Töchter.“



Nun ist diese Gesetzmäßigkeit natürlich bereits auf den ersten Blick völliger Unsinn. Jedes Kind hat immer eine Mutter und einen Vater. Hier etwas heraus zu schneiden, ist also völlig unsinnig. Als Einzelbeobachtung ist so etwas möglich, vielleicht deswegen, weil Kinder gerne mit dem gegengeschlechtlichen Elternteil bestimmte Unternehmungen machen. Doch als allgemeine (und das Gegenteil ausschließende) Aussage ist sie nicht haltbar, weil sie im Aggregat, also in der Gesamtheit, logisch völlig unmöglich ist.



Doch was man hier sehr leicht und auf den ersten Blick bereits erkennt, ist an den Börsen schwieriger. Gegenwärtig haben wir eine leichte Schwächephase an den Aktienmärkten und einen haussierenden Bondmarkt. Und da heißt es überall: Jetzt schichten die Anleger von den Aktien in die Bonds um. So etwas ist jedoch völlig unmöglich wie Söhne, die nur Mütter haben und Töchter, die nur Väter haben. Im Aggregat „passt“ es nämlich nicht.



Einzelne Söhne können durchaus auf Dauer nur mit ihren Müttern gesehen werden (und Töchter mit ihren Vätern) – die andere Seite der Medaille existiert jedoch trotzdem: Jedem Ausstieg am Aktienmarkt muss immer ein Einstieg gegenüber stehen – und jedem Einstieg in den Bondmarkt ein Ausstieg. Einzelne Anleger können also umschichten, das geht. Doch als Gesamtaussage ist so etwas unzulässig, und möglich und dumm.



Mit den besten Grüßen!



Bernd Niquet

621Paul 22-05-2005 09:33

22.05.05

Er hat es tatsaechlich gemacht!

Von Dr. Bernd Niquet

Manche Dinge werden niemals Realitaet, andere hingegen pas-
sieren so schnell, dass man sich kaum versieht. Am letzten
Wochenende habe ich geschrieben, dass es doch einmal gut
waere, wenn ein prominenter Meinungsmacher unserer neuen Ka-
pital-Religionsbewegung sich oeffentlich ans Kreuz schlagen
und von dort den Menschen seine Predigt halten wuerde. Und
schon am selben Tag muss es passiert sein, denn am Wochenende
konnten wir bereits die Andacht des Chefredakteurs der "Welt
am Sonntag" druckfrisch von der Kanzel pfluecken.

Handelt es sich bei den Firmenaufkaeufen ueber die Boerse um
ein krasses Beispiel von Raubtierkapitalismus? fragt Chefre-
dakteur Christoph Keese in seinem Leitkommentar. Nein, sagt
er, "Kapitalismus ist eine grosse Demokratiebewegung, die
kleinen Anlegern Macht ueber grosse Konzerne verschafft ...
Deswegen ist der Finanzmarkt auch ein Ort der Begegnung und
oft der Solidaritaet."

Also, ich habe nun wirklich schon die irrwitzigsten Dinge in
meinem Leben gehoert. Dass der Finanzmarkt jedoch ein Ort der
Begegnung und der Solidaritaet sei, verschlaegt regelrecht
den Atem. Ich denke, wir sollten ehrlicher mit der Wirklich-
keit umgehen. Alles andere bringt nichts. Man darf die Men-
schen nicht mit romantischem Unsinn betruegen. Die Wirklich-
keit an den Finanzmaerkten ist brutal und gemein, doch es
gibt keine Alternative zu diesem System. Man kann nur versu-
chen, es korrekt zu verstehen - und in Teilbereichen zu zaeh-
men. Der Schleier der Romantik muss weg! Ein dritter Weg je-
doch wuerde zielstrebig in die Dritte Welt fuehren.

Was mich allerdings am meisten bedrueckt, ist, dass gerade
das dieses Beispiel zeigt, dass die Meinungsfuehrer ueber-
haupt nicht begriffen zu haben scheinen, was sie da predigen.
Deswegen benutze ich auch den Begriff Religion. Denn hier
wird nur nachgebetet, was andere vorgebetet haben. Verstanden
wird es anscheinend nicht. Wie hat Kant so unuebertrefflich
ueber die Religion geschrieben: Ich musste das Wissen aufhe-
ben, um fuer den Glauben Platz zu schaffen. Bei unseren Mei-
nungsfuehrern im bereich Wirtschaft passiert gegenwaertig
genau das Gleiche.

Ein Beispiel mag das illustrieren: "Ressourcen werden ueber
den Finanzmarkt", schreibt Keese zu den Firmenuebernahmen,
"von dort, wo sie uebrig sind, dorthin transportiert, wo man
sie braucht." Das ist natuerlich voellig irrig. Das geht
naemlich nicht. Abgesehen davon, dass Kapital-Ressourcen nir-
gendwo "uebrig" sind, bedeuten Uebernahmen der Aktienmehrheit
an Unternehmen keinesfalls einen Kapitaltransfer in das ent-
sprechende Unternehmen. Es aendert sich einfach die Eigentue-
merstruktur. Die Aktien wechseln die Besitzer. Und da wird
nichts nirgendwo hin transportiert.

Dass hier Kapitalien, die vorher nicht gebraucht werden,
ploetzlich einer produktiven Verwendung zugefuehrt werden,
ist schlichtweg falsch. Das ist ein Pfeifen im Wald, wider
das bessere Wissen oder im Einklang mit der eigenen Unwissen-
heit. Ein Wolkenkuckucksheim, um uns den Biss der Heuschrecke
als harmloses Geplaenkel vorzufuehren.

Apropos Heuschrecken: Da habe ich in der vergangenen Woche
doch tatsaechlich gefunden, dass das ein Bibelzitat ist. Ob
Herr Muentefering das wusste? Ich habe das Zitat aus dem
Theaterstueck "Top Dogs" von Urs Widmer. Dort taucht es je-
denfalls als Bibelzitat auf. Nachpruefen kann ich das nicht.
Es lautet: "Und Heuschrecken kamen auf Erden, und ihnen ward
Macht gegeben wie die Scorpione auf Erden Macht haben. Und es
ward ihnen gegeben, dass sie nicht toeteten, sondern sie
quaelten. Und die Menschen werden den Tod suchen und nicht
finden ..."


++++++

Bernd Niquet ist Boersenkolumnist und Buchautor.

621Paul 25-05-2005 15:19

25.05.05
Demokratie und Irrsinn
10:16 25.05.05



Natürlich habe ich mir nichts von der Wahl am Wochenende angeschaut – außer der ersten Umfrage um 18 Uhr. Das anschließende Ritual ist unerträglich, die Journalistenfragen genauso wie die Politikerantworten. Es gehört zu einer Demokratie dazu, aber man muss es sich nicht anschauen.



Stattdessen habe ich einen Film über einen wirklich tollen Mann gesehen, eine 3-DVD-Box über Eric Cantona, den genialen Mittelstürmer von Leeds United und Manchester United in den Neunziger Jahren.



Zur selben Zeit trat ein anderer toller Mann vor die Kameras. Es war unser Kanzler und er kündigte Neuwahlen für den Herbst an. Natürlich ist das auch ein strategischer Schachzug, aber eben nicht nur. Ich habe den allergrößten Respekt vor dieser Entscheidung. Sie zeigt Größe und Verantwortung für unsere Demokratie. Die SPD hat eine harte Sanierungspolitik begonnen, und das Volk ist nicht gewillt, diesen Weg mitzugehen. Deswegen stellt die Regierung die Vertrauensfrage. Besser geht es nicht.



Natürlich hat das alles etwas komplett Irres und Wahnsinniges an sich. Der SPD wird die Quittung präsentiert für ihren harten Sanierungskurs. Und dafür wird jetzt die Union gewählt, die eigentlich noch härter sanieren will, uneigentlich aber bisher nur Blubberblasen von sich gegeben hat. Sie wollen sanieren, dürfen das aber nicht sagen, weil sie ansonsten nicht gewählt werden würden. Wenn das kein Wahnwitz ist.



Aber die Union will natürlich lieb sanieren. „Aus Spaß sind alle bösen Tiere heute lieb“, sagt meine Tochter oft zu mir, wenn wir anfangen zu spielen. In der Politik sieht es auch nicht anders aus als in der Welt eines vierjährigen Mädchens.



Der neue Ministerpräsident von NRW möchte das Land dadurch sanieren, dass die Verwaltung durchforstet und gestrafft, in Bildung investiert wird und die Universitäten gefördert werden. Da lachen ja die Hühner. Aber das ist natürlich „liebe Sanierung“. Das tut nicht weh, ist positiv und daher wählbar. Meine Güte! Und für so einen Quatsch, der weder durchführbar ist noch etwas bringt, wird die neue Regierung gewählt. Der Wahnwitz kennt wirklich keine Grenzen.



Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass, Angela. Das wird das Leidmotiv der Deutschen für die nächsten Jahre sein.



Mit den besten Grüßen!



Bernd Niquet

Tester32 25-05-2005 15:38

Präziser könnte man es nicht sagen, ist genau das, was ich auch denke. Ich verstehe daher auch nicht die Kritik an Schröder, der bei einem zweistufigen Parlamanet mit permanenten Landtagswahlen gar nicht besser sein kann, als die verwöhnten deutschen Wähler. Und ich verstehe das Schweigen der CxU. Vorgestern im Radio gehört: in Deutschland kommt man an die Macht nicht durch das Reformversprechen, sondern durch das Abstrafen der vorherigen Regierung. :) Die Leute sind einfach immer noch sehr blind, glauben an einen deutschen Sonderstatus und wollen der Realität (das Leben ist hart und wir stehen in einer stark zugenommenen Konkurrenz mit weniger verwöhnten Völkern) nicht in die Augen schauen. :(

621Paul 25-05-2005 16:34

Hi Tester,
vielen Dank für Deinen Beitrag.
Ich möchte das "blind" noch verstärken, indem ich sage, die Leute sind zum größten Teil blöd.
"Nur die allerblödsten Kälber wählen ihre Schlächter selber.´

Gruß
621Paul


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